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Der Aberglaube als Erzieher Don Willy Höhnel, Dresden Sie abergläubisch? Lächerliche Frage! DWW Also nicht? DKWZ Das ist doch fiir einen modernen, aufgeklärten Menschen eine Selbstverständlichkeit. Dann gestatten Sie, daß ich Ihnen von den vielen anderen erzähle, für die auch Heuligentages noch der Aberglaube ein Faktor ist, der ihr Leven, ihr Tun und ihr Lassen inttbestimntt. Ich meine nicht den finsteren Aberglauben aus den Gerichtsakten, der zu Vergehen und Verbrechen verleitet, nein, ich denke an den harm losen Weggenossen, der uns — meist unbemerkt — so wohl im einzelnen Lagesoerlaus als auch während des ganzen Lebens zur Seite schreiiet: warnend, mahnend, ratend, anfeuernd, tröstend, wie es eben ein rechter Er zieher tut. Woher er stammt? Wer ihn schuf? Unbekannt wie beim Sprichwort ist auch beim Aberglauben der geistige Urheber, sowie Zeit und Ort seiner Entstehung. Aller- wärts im Lande stand seine Wiege: seine Eltern waren alle die, denen die Erziehung des Volkes, der Volks massen zu allerhand Tugenden, wie Fleiß, Ordnungssinn, Pünktlichkeit, Sauberkett, Friedfertigkeit am Herze» lag. Insonderheit mögen es gewesen sein Geistliche, Arzte, Richter, Lehrer, kluge Eltern und Lehrherren, die die Seele der Unerzogenen — der Erwachsenen wie der Kinder — kannten und zu behandeln verstanden. Die da gar genau wußten, daß auf das Gemüt des einzelnen wie des Dolksganzen das Geheimnisvolle jederzeit starke Wirkung ausüvt. Und in solchem Gewände geht ja der Aberglaube durch die Lande. Was den genannten Er ziehern des Volkes mit direkten Mahnungen und Auf forderungen, mit Aufklärung und Belehrung nicht gelang, das erreichten sie gewiß, wenn sie sich der geheimnis vollen Form des Aberglaubens bedienten. Nicht aus fällige Strenge, nicht aufdringliches Wesen ist dem Aber glauben eigen, nein, in aller Stille wirkt er. Eine Drohung oder Verheißung, oft ganz verschleiert angedeutet, den Kern der Sache klug bemäntelnd, veranlassen den Unmündigen auch heute noch, dies zu tun, jenes zu lassen; viel durchgreifender und erfolgreicher als der klar aus gesprochene Befehl oder das unzweideutige Verbot. Alles gehorcht ihm willig, jung und alt; sie beugen sich ihm vom Morgen bis zum Abend, von der Wiege bis zum Grabe. Legion ist die Zahl der Aberglauben, die sich mit der Erziehung der Kinder befassen. Die wette Rerse, die der einzelne Aberglaube durch das ganze Land und über die Grenzen hinaus im Laufe der Jahrhunderte unternahm, erklärt die mannigfachen Formen und örtlichen Färbungen ein und des-selben Aberglaubens. Was ist tm Volke alles an Aberglauben ersonnen worden, um die Kinder zu den einfachsten Tugenden — Spalsamkeit, Ordnungs liebe, Sauberkeit, Verträglichkeit — zu führen! Gerade die Verträglichkeit ist ein heikler Punkt. Bereits am frühen Morgen gibt es da oft argen Verdruß beim Waschen, Ablrocknen oder Aufräumen. Hier kommt der Aberglaube gefchrttlen und schafft Ordnung, wo Ermah- nungen, Schelte oter Schläge nichts fruchten wollen. „Wenn zwei sich zu gleicher Zeit in einem Becken waschen, so stirbt das jüngere," spricht er drohend, und man folgt ihm. Wie ost gät die Mutter vorher über solch unhygte- nisches Waschen oder über die Pflicht des Jüngeren, nachzugeben, gesprochen, ohne Erfolg zu erzielen. Weiter meint der Aberglaube: „Wer sein Waschwasser stehen läßt, wird am gleichen Tage ausgelacht." So verführerisch es ist, sich um den kleinen Handgriff zu drücken, so unan genehm wäre es doch, wenn man an dem Tage am Ehr- g-sllhl gekränkt würde; daher doch lieber schnell die Waschschüssel au-geschüttet! Wenn zwei sich an einem Handtuch abtrockuen, so wird an dem Tage bestimmt Zank, oder eins stirbt bald. Wieviel Streit um das Handtuch wird unter den Kindern vermieden worden sein durch diesen Aberglauben. Wen die Nase juckt, d. h. wer an der Nase herumtastet, der erfährt etwas Neues, aber Unangenehmes, oder er fällt in den Schmutz; alles sehr unangenehme Sachen, deshalb läßt man lieber das häßliche Kratzen an der Nase und putzt sie sich gehörig. Wenn man stch die Hände am Tischtuch abtrocknet, so gibt es Zank. Ungekämmt darf man nicht ausgehen, so haben die Hexen Gewalt — und das wäre doch fürchter lich, deshalb rasch das Haar noch zu Hause geordnet! Auch mit dem Anziehen und der Kleidung besaßt sich der Aberglaube. Des Morgens darf man nichts verkehrt anziehen, sonst geht alles an dem Tage verkehrt; also schon am frühen Morgen fein aufgepaßt! Kleider, die an einem Sonntag genäht sind, bringen Krankheit. Hier verrät sich kirchlicher Einfluß. Man darf sich die Klei dung nicht auf dem Leibe flicken oder einen Knopf an nähen, sonst bekommt man Seitenstechen, oder man ver liert den Verstand oder das Gedächtnis oder erleidet einen schweren Tod, oder der Arzt bekommt an uns zu flicken. Die Menge dieser Drohungen beweist, mit welch hartnäckigem, weitverbreitetem Fehler man es hier zu tun hat. Also, liebe Hausfrau, die Sachen vorher durch gesehen, damit du nicht den Deinen Schaden zufügst! Wenn man jich die Schuhe an den Füßen putzt, so stirbt man schwer. Die Schuhe darf man nicht auf den Tisch stellen, wenn man darin nicht fallen oder ausgelacht werden will. Also lieber die Schuhe hübsch unten ge lassen, auf den Tisch gehören sie nicht! Ebensowenig wie die Strümpfe! Wer nämlich die Strümpfe über Nacht auf dem Tisch liegen läßt, bekommt Fußleisten. Kleider darf man nicht über Nacht im Freien lassen, sonst wird man mondsüchtig. In Wirklichkeit ist es eine Unordentlichkeit und gibt Gelegenheit zum Diebstahl. Wieviele Aberglauben wollen den Mädchen wirtschaft lichen Sinn anerziehen. Am Morgen ist es so ettstach, das ausgekämmte Haar aus dem Fenster zu werfen, ohne sich um die Ungehörigkeit solches Tuns zu kümmern. Da kommt der Aberglaube und erzählt nicht etwa davon, daß man damit leicht Jemanden treffen könnte, sondern er wendet sich an die Eigenschaft der Mädchen, wo er am bestimmtesten auf Gehör rechnen kann, an die Eitel- kett. Er sagt: „Wer Haare zum Fenster hinauswirst, dem gehen die anderen aus;" oder „Wer ausgekämmtes Haar in den Ofen steckt (wohin cs nämlich gehört), der bekommt viel neues. Überhaupt wendet sich der Aber glaube gegen das Wersen von Gegenständen aus dem Fenster; allerdings geht er klugerweise dabei nicht auf das Gefährliche oder Unsaubere ein, sondern er warnt ganz unbestimmt: „Wer etwas zum Fenster hinauswirst, der wirst das Glück von sich." Von Geld und Brot