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Ernst Willkomms Sagen und Märchen aus der Oberlausitz Bon Friedrich Liebe r iner der fruchtbarsten Schriftsteller der Oberlausitz ist Ernst Willkomm. Er wurde 1810 in Herwigs- dorf bei Zittau als Sohn des dortigen Pfarrers geboren. Nachdem er das Gymnasium zu Zittau durchlaufen hatte, bezog er 1830 die Universität Leipzig. Zu erst wandte er sich dem Rechtsstudium zu. Bald aber gab er die juristischen Studien auf und studierte die Fächer seiner Neigung: Philosophie und Ästhetik. Nach abgeschlossenen Studien war Willkomm als Schriftleiter und Mitarbeiter zahlreicher Zeitschriften tätig. 1852 siedelte er nach Hamburg über. Don 1857—1859 wohnte er in Bernstadt in der Lausitz. 1859 kehrte er nach Hamburg zurück. Den letzten Teil seines Lebens verbrachte er in Zittau. Dort starb er hochbetagt im Fahre 1886. Wir nannten Ernst Willkomm einen der fruchtbarsten Schriftsteller der Oberlausitz. Diese Behauptung besteht zu Recht. Mehr als 100 Bände hat er veröffentlicht. Unter dieser ungeheuren Zahl sind einige Veröffentlichungen, die von uns Lausitzern besondere Anteilnahme beanspruchen. Denn in einigen dieser Erzählungen bildet die Lausitzer Landschaft den Hintergrund, auf dem sich das Geschehene abspielt. In einigen andern hat Willkomm Lausitzer volkskundliche Stoffe zu Erzählungen umgestaltet. Zu dieser Art der Er zählungen gehören Willkomms Lausitzer Sagen und Mär chen. Die beiden Bände sind 1843 in Hannover erschienen. Sie enthalten folgende neun Geschichten: Der Zwergbrunnen (I, 1—26. Bertsdorfer Sage) Die Tochter des Moores (I, 27—95. Kottmar-Sage) Der Elfensabbath (I, 96—161. Sage vom Sonnenberge bei Waltersdorf) Der Malzmönch (1,162—195. Zittauer Sage) Das Aschenoeilchen (I, 196—253. Zittauer Sage) Der Pfaffenborn (II, 1—64. Sage vom Schülerbusch und dem Pfaffenborn) Der Elf als Hofmeister (II, 65—87. Freischwebendes Märchen) Der Husar oder das reitende Irrlicht (II, 88—194. Sage von Reibersdorf, Reichenau usw.) Der Schlangenkönig (II, 195—272. Anscheinend Sage von Hainewalde). Diese neun Sagen und Märchen sind heute für die Lau sitzer volkskundliche Forschung im großen und ganzen noch ein ungehobenes totes Gut. Grüße in seinem Sagenbuche Sachsens (1. Aufl. Dresden 1855) nimmt folgende Sagen Willkomms auf: Das Aschenveilchen zu Zittau, der ge- spenstige Lautemann zu Zittau, der Malzmönch zu Zittau. Besonders die letztgenannte Sage ist von ihm in eine schwer fällige, unglückliche Sprachform gebracht worden. Karl Haupt in seinem trefflichen Lausitzer Sagenbuche (Leipzig 1862) ist in der Auswahl Willkommscher Sagen vorsichtiger als Grüße. Er bringt nur die Sage vom Lautemann und die vom Aschenoeilchen. Dazu nutzt er noch einige Bemer kungen der Einleitung Willkomms über den Wassermann in der Zittauer Gegend. Warum sind die beiden bedeutenden Sagenkundler,Grüße und Haupt, so vorsichtig in der Benutzung Willkommscher Stoffe? Wir werden leicht eine Antwort finden, wenn wir uns einige Bemerkungen Willkomms aus der Einleitung zu den Sagen und Märchen vergegenwärtigen. Er schreibt: „Als wieder gedichtete möchte ich diese Sagen und Mär chen angesehen wissen" (S. 4). „Werden die Sagen etwa in einer Spinnstube, in der so- genannten Hölle des Bauers oder Webers von jemand er- zählt, so glaube man ja nicht, daß dies in irgend einem Zu- sammenhange geschehe. Immer erfährt der Zuhörer nur Bruchstücke und selbst diese nicht einmal ganz, wenn er den Erzähler unvorsichtig unterbricht. Was ich in den mitgeteilten Sagen zusammengestellt habe, das alles ist aus solchen Er- zählungssragmenten nur nach und nach entstanden. Denn diese Sagen haben das Eigentümliche, daß sie jeder Erzähler anders faßt, daß ein Einzelner die Erlebnisse vieler oder das von anderen Gehörte mit einer kleinen Zutat eigener Erfindung verbrämt und nun von einem einzigen Orte zehn bis zwölf Begegnisse weiß, die, obwohl äußerlich verschieden aussehend, doch innerlich genau zusammenhängen und in ein Gesamtbild gefaßt erst zu dem werden, was wir im strengen, im literarischen Sinne eine Sage, ein Märchen nennen" (S. 15). „Ich nahm den Kern und umwob ihn mit einer an sprechenden Schale" (S. 26). Diese Bemerkungen Willkomms zeigen, daß er die Sagen und Märchen nicht nach dem großen Borbilde der Brüder Grimm in schlichter volksläufiger Form aufzeichnete. Er gestaltete die Sagenbruchstücke, die ei kannte, zu Geschichten, zu Novellen um. So mußte er sich auch nach dem Erscheinen seines Werkes in einer damals angesehenen Zeitschrift fol gende Kritik gefallen lassen: „In diesen neun Geschichten sind 99 Teile Beiwcrk, der hundertste endlich ist jener Kern. Willkomms Unternehmen ist ein durchaus verfehltes, ein langweiliges, trübseliges. Wer hier neun Märchen erwartet hat, süße, duftige, wie Waldesrauschen und Quellenrieseln an unser Herz tönende, findet nur neun modernisierte, sehr ordinäre Gespenster geschichten." (Europa, Chronik für die gebildete Welt, Leip zig 1844,1, S. 568). Aber wenn es auch an dem wäre, wie der Kritiker sagt, daß 99 Teile dieser Sagen von Willkomm erfunden, ge dichtet sind, so ersteht doch vor dem Volkskundler einer sagenarmen Zeit die Aufgabe, dieses eine Hundertstel, den echten Kern, aus dem Beiwerke Willkomms herauszulösen. Dieser nicht ganz leichten Ausgabe wollen wir uns unter ziehen. Dabei wollen wir unsere Aufmerksamkeit auch auf andere volkskundliche und kulturgeschichtliche Tatsachen lenken, die uns Willkomm erzählt. I. Sagenkundlichesaus den Sagen und MärchenWillkomms. Um aus den Erzählungen Willkomms den echten Kern herauslösen zu können, haben wir uns einige Fragen zu überlegen. Aus welchen Quellen schöpfte der Erzähler? An scheinend kommt für ihn nur die mündliche Überlieferung in Betracht. In seiner Lebensbeschreibung (Leipzig 1887; sie umfaßt nur die Iugendjahre) schreibt er: „Meine Groß mutter (in Zittau wohnhaft) plauderte unablässig mit mir, wählend sie am Fenster sitzend flink die Nadel rührte, er zählte Märchen oder kleine Geschichten." Auch von seiner Kinder-Wärterin, einer abergläubischen Frau, erfuhr er mancherlei Sagenhaftes. Aber am eindringlichsten wurde er mit dem Sagengute der Lausitz bet dem David Bauer be kannt, einem Herwigsdorfer Bauer, den er häufig besuchte.