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Zeit ihnen zuraunte. Draußen heulte der Herbstwind um das alte Haus, rüttelte an den Fensterläden, fuhr jammernd durch den Kamin und erstarb mit leisem Klagen in dem dicken, grünen Kachelofen, auf dem die bunte Jagd wohl noch mehr Risse und Sprünge zeigte, als das Gesicht der alten Mine. Unruhig flackerte das Rüböllämpchen und warf den Schatten der alten Frau riesengroß an die braune Wand, sodaß der Schalten der Katze wie ein Höcker auf der Schulter wirkte und die ganze Gestalt etwas Unheimliches an sich hatte. Dann rückten die Mädchen enger zusammen und blickten sich wohl auch scheu nach der Türe um, war es doch gerade, als ob auf der Holzstiege ein leiser Tritt gewesen war. „Also der Busch müller," Hub die Alte ihre Erzählung wieder an, nachdem die Rädchen wieder schnurrten, „ich hab ihn noch gekonnt, war ein großer starker Mann, den niemand hat lachen gesehn, der hatte das zweite Gesicht. Kam er auch mal abends rein und setzte sich mit todernstem Gesicht an den Tisch, antwortete auf keine Frage. Nach geraumer Zeit ging die Türe wieder auf, und herein trat der Müller, setzte sich an den Tisch und oer- schmolz mit seinem Ebenbilde zu einer Person. Ja, und da wußten alle, wenn der Buschmüller sein zweites Gesicht hatte, kam ein Unglück. Zwei Tage später brannte in der Nacht Jörgen Fried Beckens Gut nieder. — Ja, und einmal, da rief er, sie sollten doch die Äpfeldiebe aus dem Garten jagen. „Ha troomt," sagte der Mühlknecht. Als der Müller noch einmal im tiefsten Schlafe von den Apfeldieben sprach, sagte seine Frau: „Ach Gutt, Christian, ha Hutt wiedr s zweete Gsicht, gieh ock amol as Gartl und sieh anoch, ob warklch siche Karin do san!" Der Knecht schnallte sich den Hosengurt fester, nahm einen Stecken und ging in den Garten. Meiner Seelen, da waren Diebe auf den Bäumen, einen hat er erwischt und ver bleut, der andre riß aus?' Mit einem Ruck hielt die Alte ihr Rädchen an, als besänne sie sich auf etwas besonders Fürchter- liches, sodaß auch die Katze mit Schnurren aushörte und sie aus verschlafenen Augen änblinzelte. „Ja, und einmal wäre der Buschmüller bald dem Teufel in die Hände geraten," fuhr die alte Mine wieder fort. „Er wurde bald ein Freischütz. Wißt ihr nicht, was das ist? Einer, der mit Hilfe vom Bösen Kugeln gießt, die immer das treffen, was er will. Er war ein leidenschaftlicher Jäger und hatte einen prächtigen Hirsch ge- sehen, den er unbedingt haben wollte. Ein durchreisender Handwerksbursche riet ihm, eine Freikugel zu gießen, das sei doch ganz leicht. Er solle sich vom Totengräber Zinn oder Blei geben lassen, das dieser bei alten Särgen wieder aus gräbt, daraus müsse er eine Kugel gießen. Dann solle er zum Abcndmahle gehen, aber die Hostie, die er vom Pfarrer be- kommt, Hinterm Altar aus dem Mund nehmen und einstecken. Mit dieser Hostie solle er zur Kreuzbuche gehen, sie verkehrt mit einer Nadel an den Stamm stecken, zwölf Schritt davon gehen und die Kugel rückwärts über die Schulter mit dem Gewehre abschieben. Doch dürfe er auf keinen Fall sich um- schauen. Das Blei würde bestimmt durch die Hostie gehen, dann könnte er sie aus dem Holze herausschneiden. Diese Kugel wäre eine Freikuge! und würde treffen, was er wünschte. Der Handwerksbursche ist darnach nie wieder gesehen worden, und einige behaupten, es sei der Böse selbst gewesen. Der Buschmüller bedachte sich lange die Sache, endlich erlag er der Versuchung. Die Kugel hatte er schon gegossen und ging zum Abendmahle. Zhm klopfte das Herz, als er hinter dem Altäre die Hostie aus dem Munde nahm und in die Westentasche steckte, und wie ein brennender Fleck war's ihm hier an der Brust. Aufregung und kindliche Angst trieben ihn nach dem Gottesdienste heim. Er hing den Sonntagsrock in den Schrank, lud die Kugel in die Büchse und ging zu dem alten Buchen baume. Es war ein trüber Herbsttag, der Nebel spann graue Schleier um die alten Fichten, und von der Buche sank Blatt um Blatt. Zitternd hatte der Müller sich auf einen Stein gesetzt, um auszuruhen, war er zu hurtig gegangen, oder war's der Nebel, der ihn schwindeln machte, oder —, er griff nach der Brusttasche und nahm die Hostie raus. Lange betrachtete er das kleine undeutliche Bild des Heilands darauf. Dann gab er sich einen Ruck, steckte es verkehrt mit einer Nadel an den Stamm, ging zwölf Schritte entfernt und warf die geladene Büchse über die Schulter. Da, was war das? Ein Sturm brauste plötzlich daher und schüttelte die Bäume, daß rings die Aste splitterten. Hinter sich hörte er Jammern und Schreie. Doch eingedenk der Warnung des Handwerksburschen, sich nicht umzusehen, schloß er die Augen und holte tief Atem. Der Sturm wurde immer toller, das Jammern und die Schreie immer lauter, da wollte er eben den Hahn abdrücken, als er seinen Namen rufen hörte. Die Stimme kannte er, wie lange hatte er sie nicht mehr gehört? So rief ihn mit Liebe und doch mit Borwurf nur seine Mutter, doch die war ja schon längst tot. Er rechnete nach, waren es wirklich schon fünfund- zwanzig Jahre? Wie lange war er nicht mehr auf dem Kirch hofe gewesen? War sie etwa gar schon wieder ausgegraben und hatte einem andern Schläfer Platz machen müssen? War das Blei in seinem Rohre vielleicht gar von — doch horch, näher, ängstlicher wieder der Ruf, ja, das ist seine Mutter. Er drehte sich um und sah groß am alten Buchenstamme den gekreuzigten Heiland hängen, wie er ihn traurig anblickte, als wollte er sagen: „Was hab' ich dir getan?" Da warf er mit einem Aufschrei das Gewehr weg und rannte über Steine und Wurzeln stürzend ins Tal. Mit einem Male war es toten still im herbstlichen Walde geworden, und nur graue Nebel spannen um die alte Buche. Der Müller fiel in heftiges Fieber, drei Tage darnach war er tot." Die letzten Sätze hatte die alte Frau mehr für sich selbst gesprochen. Nun saß sie zusammen gesunken da und starrte in die Hintere Zimmerecke, selbst wie ein Bild aus sagenhafter längst entschwundener Zeit. Schon lange standen die Spinnräder still. Unruhig blakte das Rüböllämpchen, und der Herbstwind warf kalte Regen schauer an die Fensterläden. Die alte Kuckucksuhr holte knarrend zum Schlage aus. Da nahmen die Mädchen ihr Spinnzeug und gingenstill hinaus; denn sie wußten, jetzt war die alte Mine nicht für sie da. Sie saß wohl noch eine Stunde sinnend da bei ihren Erinnerungen. Der Neschwitzer Dorstag Der herrlich gelegene Ort Neschwitz, ein durch seine prächtigen Parkanlagen bekannter alter Adelssitz, sollte der Schauplatz des zweiten Dorftages sein, den der Landesverein Sachsen für ländliche Wohlfahrts- und Heimatspflege veranstaltete. Fleißige Hände bereiteten das Fest aufs Beste vor, an ihrer Spitze Kammerherr Freiherr von Vtetinghoff-Riesch. Am Freitag, dem 2. Juli, fand der Dorftag seinen Auftakt in einem Begrüßungsabend im festlich geschmückten Saale des herrschaftlichen Gasthofes. Der Vorsitzende des Landesvereins, Amtshauptman» Dr. Vogel von Frommannshausen, Oschatz, begrüßte die Erschienenen, besonders die Herren Bischof Dr. Schreiber, Freiherrn von Vietinghoff-Riesch, Oekonomierat Lembke, Berlin, Professor Dr. Derlitzki, Pommritz, und Fräulein von Seydlitz. Der Abend war reichlich ausgeschmückt mit wendischen und deutschen Volks gesängen. Im Mittelpunkte stand ein langer Vortrag des Herrn Lehrer Melzer über die Beziehungen zwischen wen dischem und deutschem Volkslied, wobei er die verschiedenartige Einstellung des Volksliedes hervorhob, die aber weit entfernt sei von den Schlagern der Neuzeit. Nach seiner Berechnung zählt der deutsche Volksliederschatz ungefähr 6000, der wendische gegen 1500 Lieder. Bischof Dr. Schreiber würdigte die Veranstaltung des Dorftages und betonte dabei, daß Heimat liebe, Bolkspflege und Volkstum hauptsächlich auf der Grund lage der Religion und des Christentums gedeihen. Den Haupttag in der Reihe der Veranstaltungen stellte der Sonnabend dar. Er brachte eine Anzahl Vorträge, die alle in ihrer Art sehr wertvoll erschienen. Gegen 10 Uhr vor mittags eröffnete Amtshauptmann Dr. Vogel von From mannshausen die sehr gut besuchte Tagung im Saale des herrschaftlichen Gasthofes und führte sodann Näheres über die