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unseren Füßen so still, so reglos, starr; ein graues, ge dunsenes Antlitz ist schaudervoll erkennbar, darin die Auaen unbeweglich geschlossen, der Mund krampftzaft ein wenig geöffnet, daß man die weißen Zäbne blinken sieht. Zudem trieft der ganze Körper von Nässe; aus dem wirren Haar tropft es, lauft in eiligen Perlen über die Schläfen; aus den Kleidern, von den Schuhen rinnt es unablässig; winzige Lachen bilden sich auf den Decken, sich beständig vergrößernd. Dieser stumme, fremdartige Körper soll unser Karl gewesen sein? Er, den wir ver ehrten u> d zu dem wir aufblickten. Er, mit dem wir vorher erst uns noch tummelten? Er, der in der Schule mit Fug und Recht den ersten Platz innehatte? Es ist beängstigend und beklemmend, diese Gedanken denken zu müssen. Verlegen, kleinlaut umsteht das Volk das Bild des Jammers. Es bat den Anschein, als wüßte keiner recht, was j-tzt zunächst zu tun sei. Ein Mann kniet nieder und beginnt schwerfällig, dem Kinde die Schlittschuhe ab zuschnallen. Ein anderer setzt die Mütze ab, legt ein Ohr an die Brust des Knaben, murmelt dabei: „Vielleicht is er noch nich ganz tot!?" und erhebt sich dann kopf schüttelnd wieder. „Pst!" rufen da einige, „setze komm se!" Aller Augen richten sich auf den Weg hinaus, irgend jemand sagt: „O je, das gibt aber ä trauriges Weihnachten!" Uber die gefrorenen Wagengeleise stolpernd, mit den Armen halb besinnungslos um sich schlagend, stürzt die Mutter des Toten herbei, die Augen schreckhaft weit ge öffnet. Einige Meter hinter ihr her, einmal im Schritt, dann in schnellem Laufe, er, der behäbige Gastwirt, der wohlgeachtete Mann, jetzt unglücklichster aller Väter. Es ist furchtbar, zu sehen, wie diese Mutter sich nun über ihr totes Kind wirft, nicht achtend der eisigen Nässe, wie sie ihm mit bebenden Händen über die weißen Wangen fährt und über die stille Stirn, wie ihre heißen Tränen sich mit dem kalten Gerinsel mengen, das gleichgültig von Kleidung und Körper des Ertrunkenen sickert. „Karl! Mein Karl! Karlchen, mein Liebling!" so schreit sie verzweiflungsvoll; wimmernd nennt sie ihn mit allen Schmeichelnamen, die ihr das blutende Mutterherz eingibt, streichelt ihn unaufhörlich, ergreift seine starren Hände und schüttelt sie, als wollte sie ihn dadurch wieder auf. wecken. Dann sinkt sie in sich zusammen. „Du lieber Gott! Du lieber Gott!" flüstert sie jetzt ein über das andere Mal. Uns Zu'chauenden allen ist das Weinen nahe; die Frauen führen leise schluchzend ihre Taschen tücher an die Augen. Der Vater aber steht aufrecht, tränenlos an der Leiche seines Einzigen. In gefalteten Händen hält er den Hut, das Kinn preßt er an die Brust, mit den Augen blinzelt er fortwährend, und der dichte blonde Schnurrbart zuckt auf und nieder. Auf einmal überläuft ihn ein Zittern, er bricht in die Knie, ächzt ein heiseres: „Karl!" und nimmt den Kopf seines Jungen in seine großen, schwie ligen Hände. Jetzt laufen ihm auch die Tränen über die rauhen Wangen. Immer mehr Leute haben sich unterdes eingefunden; ängsiliches Gemurmel spinnt sich fort, mitfühlende Seufzer entsteigen. Es nähert sich plötzlich das Rattern eines Motorrades. Da kommt der Arzt aus dem Nachbarorte, der zufällig bei einem alten kranken Manne im Dorfe weilte und von dem Unglück erfuhr. Man macht ihm Platz, er neigt sich über das ertrunkene Kind. Vor mir stehen Erwachsene, ich kann nicht mehr sehen, wie er untersucht. Dann hören wir ihn halblaut zu den Eltern sprechen. „Was is?" fragen die Leute untereinander, „was lagt er?" Und die Vornstehenden geben zurück: „Herzschlag is es gewesen, sonst wär er amende nich er- trunken, sagt der Doktor. Er is sehr erhitzt gewesen vom Schlittschuhlaufen, sagt er, und an firchterlichen Schreck hat er natierlich ooch gekriegt. Da is nischt mehr ze machen." Die Müllersleute haben unterdessen eine Tragbahre zurechtgebaut. Man hebt den toten Karl hinauf, und langsam, traurig bewegt sich der Zug nun dorfwärts, den Ertrunkenen in das Haus zurückzubrinqen, das er vor wenigen Stunden munter und lebensfroh verließ. Alles hat sich verlaufen. Ganz allein stehe ich auf dem Wege, der jetzt von vielen Menschenfüßen zertreten ist, und blicke dem Zuge nach. Also so ist es mit dem Tode beschaffen! So boshaft, so heimtückisch und wider rechtlich kann er einen an sich reißen! Und wen er ein- mal aus dunklem Lauern heraus getroffen hat, dessen Rolle ist in diesem bunten Dasein äusqespielt, der liegt steif und erbarmungswürdig da wie jetzt Karl auf seiner Bahre. Und Karl, du munterer, kluger Freund, wie ist es nun mit dir? Ist es wahr, daß in dir eine unver gängliche Seele wohnte, die dem verstorbenen Leibe jetzt entstieg und in himmlischer Klarheit unsere Sorgen und Schmerzen um dich belächelt? Eine schwarzgekleidete Frau schreckt mich aus meinem Brüten auf, die den Pfad vom Krämer herabgeeilt kommt. Ich erkenne sie, es ist die Hebamme, und die Mädchen erzählten sich ja auch vorhin auf dem Eise, daß bei einem Bauern ein Kleines angekommen wäre. „Was is denn da los?" ruft sie mir zu, mit ihrem Schirm nach jenem Zuge weisend. Ich gebe ihr Bescheid. „Ja ja," sagt sie, ohne sehr betroffen zu scheinen, „der eine kommt, der andre geht; so is es uff der Welt!" Dann nickt sie mir zu und trabt weiter. Mich friert auf einmal. Ich wende mich und be ginne, den Abhang, auf dem abseits vom Dorfe unser Haus sich erhebt, hinaufzusteigen. Das trübe Licht dieses Dezembertaqes weicht schon einer noch trüberen Dämme rung; die Schneeflocken fallen seit einigen Minuten dichter; kein Windhauch ist spürbar. Im winterkahlen Haine streiten sich ein paar Krähen mit häßlichem Gekrächz um das Nachtquartier. W'e ist das doch auf einmal so un- heimlich! Es ist, als schlichen schattenhafte, todbringende Gespenster unhörbar über die Fluren. Und dort im Ge büsch, da an der Straße, wie ragen die Bäume so schwarz und erstorben, wie strecken sie hagere, bekrallte Arme zum Himmel empor! Mich packt ein Grauen an allen Gliedern; ich jage pochenden Herzens quer über die Felder und fühle mich erst geborgen, wie die Türe des Vaterhauses sich mir traulich öffnet. „Draußen, als einen stillen, erbebenden Platz, findest du Len Garten der kreuze, kaum ein §riedkof liegt so sckön wie der deiner lZeimatstadt. Wenn du Len breiten Weg aufwärts- gebst, Lurcb viele IZlumen, die den Gedanken an das Leben wacbzukatten sucksn, dann rukt ein vergessener Gügsl vor dir: ein Muttergrab, ein keilig Grab! Go spracb ein Dickter. Icb sebs, wie du dir nack dem Gerzen greifst, icb weiß, welck ernster Scbwur sick in deiner Gruft losringt, und Ick weiß aucb, wem der gilt." Lmil VvLel.