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Anna Felber hatte sich in den Schlaf gemeint. Da trat die lichtumflossene Gestalt der Himmelskönigin zu ihr. In beiden Händen hielt sie ein großes Buch, das breitete sie vor Anna aus und sagte zu ihr: „Komm und sieh, das ist das Buch Deines Lebens!" Blatt um Blatt des Buches wendete sich um und lebendig traten ihr da die Gestalten der bunten Bilder entgegen: Da stand sie ja selbst im Sommersonnen schein lachend mit ausgebreiteten Armen vor'm Gärtchen, und Christel kam im vollen Lauf den Berg herab, das Schulränzel auf dem Rücken. Der Schwamm am Faden tanzte wie toll auf und nieder bei der wilden Jagd. Jetzt sprang sie ihr jauchzend in die Arme und erzählte mit sich überstürzenden Worten die Neuigkeiten aus der Schule. Anna sah ihr tief in die Bergseeaugen, küßte sie herzlich und ging mit ihr um das Gartenzipfelchen herum nach der Eingangsseite des Hauses. Da gewahrten sie am Waldsaum den Vater. Christel riß sich hastig von der Mutter los, um in atemlosem Laus dem Vater entgegen zu springen. Ihre große, rote Schleife hüpfte wie eine Feuerflamme auf dem prächtigen, blauschwarzen Haar auf und nieder. Der Vater war erreicht! Die Begrüßung fiel ebenso stürmisch aus, wie vorher bei der Mutter, und Hand in Hand kehrten beide in das Häuschen ein. Blatt um Blatt wendete sich! Da kam Christel im schwar zen Gewand, ein Goldkreuz an feinem Kettlein um den Hals, das Gesangbuch in der Hand, aus die in Festkleidung harrenden Eltern zu und küßte sie innig. „Bleib mir brav und rein, wie bis heute," sagte der Felber-Christlieb, „ich könnt's nicht überleben, wenn Du mir Schande machtest!" — Das war Christels Einsegnungstag! Wieder ein Blatt! Das Land lag im Sonnenschein, fest lich-feierlich. Die Dörfler waren vor die Türen getreten, um den Erntezug zu sehen. Jetzt kamen die buntbebänderten, rankcngeschmückten Wagen die Straße herauf. Viel junges, lustiges Volk war darauf. Musik, Lachen und Scherzen hörte man schon von weitem. Nun waren sie da. Die Christel war auch dabei; sie hatte eine große, mit Ranken umkränzte Kiste, die randvoll mit Sträußchen gefüllt war, vor sich und teilte lachend nach allen Seiten aus. „Da!" — Mit einem lauten Juchzer flog der Mutter ein Sträußchen zu. Diese sah, wie sich das weiße Kleid im Winde blähte, wie die strahlenden Augen mit dem Kornblumenkranz auf der schwarzen Haarflut an Bläue wetteiferten, sah, wie ihr Schneewittchen doch so schön war! — Und andere sahen es auch, vor allein der Toni aus der Mühle, der selbst ein Bild männlicher Schönheit war. Beim Erntetanz am Abend wich er nicht von Christels Seite, und mancher Blick, bewundernd und neidersüllt, flog zu ihnen herüber. Die zwei prächtigen Menschengestalten waren ein schöner Anblick... Run lag Herbstsonnenschein auf dem Gärtchen. Christel stand am Zaun, auf das Grabscheit gestützt, der Toni lehnte mit übereinandergeschlagenen Armen auf demselben und sah der Christel verträumt in die Augen. Witts ihr doch dann mal sagen, dachte die Felber-Anna, daß sie den Toni nicht zu fest in ihr Herz schließt. Wie lange wird'» dauern, und der Toni geht wieder in die Welt hinaus. Dann kam ein nebliger Spätherbsttag. Die Welt war wie in einen grauen Sack gesteckt. Da gingen zwei Gestalten im Nebel. Die eine mußte der Toni sein, ein Ränzel auf dem Rücken und den Stock in der Hand. Und die andere? — Die Anna sah angestrengt hin.. ... Jetzt schlang die Gestalt beide Arme um den Hals des Toni; das mußte wohl ein Abschied sein. — Nun war Winter. Christel fror immer. In einer Truhe hatte sie eine weite, wattierte Jacke gesunden, die legte sie nun nicht mehr ab. Mitten im Arbeiten sah Christel oft zur Mutter, einen unbeschreiblich bangen Ausdruck in den schönen Augen. Schon lugte die Sonne hier und da einmal längere Zeit durch den grauen Wolkenvorhang. Die Stare kamen; das neuerwachte Leben des Frühlings tat sich aus. Christel fror und ging in ihrer dicken Jacke. Die Anna bereitete ihr manch bittres Tränklein gegen das böse Frieren. Geduldig schluckte es die Christel. Ein leuchtender Frühlingstag war angebrochen. Christel war nach Milch über die Grenze gegangen; sie war schon lange Zeit fort. Anna trat vor die Haustür, zu sehen, ob sie nicht käme. Da kamen ein paar Frauen in eiligem Lauf auf sie zu. Sie zeigten mit lebhaften Bewegungen nach dem Walde und eine überschrie die andere: „Die Christel liegt tot im Walde, ein Kind hat sie geboren und dann mit den Händen erwürgt. Ein Loch hat sie in die Erde gewühlt, um das arme Würmchen zu verscharren, da ist sie gewiß dabei gestorben." „Mein Gott, das ist doch unmöglich, das ist doch ganz unfaßbar!" Doch da brachten Waldarbeiter sie auch schon getragen, und daneben schritt ihr Christlieb, ihr blon der Riese; klein und zusammengeduckt, als drücke ihn eine unerträgliche Last zu Boden. Christel wurde aufs Bett ge legt. Der Arzt kam. Sie war nicht tot, nur von einer tiefen Ohnmacht umfangen. Christlieb tobte und schrie, stieß gegen Anna und Christel wilde Verwünschungen aus — dann wurde er still und ging hinauf in seine Kammer. Christel warf sich im Fieber hin und her. Die ganze Nacht war die Mutter unablässig um sie bemüht. Nun war Mittag. Sie ging in das obere Stockwerk hinauf, nach ihrem Christlieb zu sehen. Sie rief — bekam keine Antwort. Sie klinkte die Tür auf und ging hinein. Da saß ihr Christlieb auf dem Bettrand. Ihr Christlieb? — Großer Gott, das war doch nicht ihr Christlich! Der zusammengesunkene Mann mit dem grauen Bart und Haupt? Bon unten klangen die lauten Fieberdelirien der Kranken, sie mußte zu ihrem Kinde. Christel war wieder außer Bett. Eine Decke über die Knie gebreitet, saß sie in der Stube. War die lustige, leben sprühende Christel schön gewesen — die im Leid erstarrte Christine war noch schöner. Wie eine Totenkammer war das Felberhäuschen. Christine sprach kein Wort, ebenso der Vater, den der Gram über Nacht zum alten Manne gemacht hatte. Er hatte das Haus noch nicht verlassen, seit das Un glück hereingebrochen war. Nun kam der Tag, an dem Christine von zwei Gen darmen abgeholt und ins Gefängnis geführt wurde. Die Felber-Anna lehnte sich fest an die Giebelwand des Hauses an, als sie den drei Gestalten nachsah, welche kleiner und kleiner wurden und endlich in der Talsenkung verschwanden. Die Hände krampfte sie in die Brust. — O, wer doch das Herz herausreißen könnte, daß es nicht mehr so wahnsinnig schmerzte... Da kam vom Waldrand hernieder ein kleiner Trupp Menschen. Die waren alle von Leid verstört, weil sie der Felber-Anna ihren toten Lhristlieb bringen mußten, der das Leben nicht mehr hatte tragen können. — Nun brachen wilde, verzweifelte Schreie von ihren Lippen, wie sie keines der Umstehenden je aus Menschenmund vernommen hatte. Da legte die Gottesmutter mit unendlich gütiger Gebärde die Hand auf Annas Augen und sprach: „Bor diesem allem