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Da trat ein entsetztes Staunen in die Augen der Felber- Anna, mit beiden Händen schüttelte sie den Arm des Arztes und mit unnatürlicher Stimme schrie sie: „Nein, nein, das darf nicht sein! Das kann nicht sein! Ich habe nur noch das Eine, ich habe nur noch mein Kind auf der Welt! Sie müssen, Sie müssen mir mein Kind retten!" Der Arzt zuckte die Achseln und wandte sich ab. Da brach ein Schrei, ein wilder, verzweifelter Schrei von den Lippen der Mutter, sie stürzte vor dem Arzt auf die Knie, bat und beschwor denselben, von fassungslosem Schluchzen geschüttelt, ihr das Kind am Leben zu erhalten. Es waren die ersten Tränen nach ihres Lhristliebs Tod. Und Christel blieb am Leben. Tag und Nacht umgab die Felber-Anna mit rührender Liebe und Sorgfalt ihr Kind. Tag und Nacht forschte sie unermüdlich in den einst so un ergründlichen, seelenoollen Blauaugen. Einst! —Denn heute blickten die kleinen Augen starr ins Leere, zeigten keinerlei Verstehen. Wochen, Monate, Jahre vergingen. In dem Alter, da andere Kinder schon lustig plappern und ihre kleinen Beinchen schon flink gebrauchen, mußte Christel immer noch getragen oder gefahren werden; noch kein Wort war über ihre Lippen gekommen, und verständ nislos sah sie auf ihre Umgebung. Wieder vergingen Jahre. Die Zeit des Schulbeginns war hcrangekommen. Sprechen und laufen konnte Christel ja wohl nun, denken würde sie wohl nie können. Mit gütigen Worten sagte Herr Heinemann, der Lehrer des Dorfes, der Felber-Anna, daß es doch am besten sei, Christel käme in eine Anstalt, da sie ja doch den Schulbesuch im Orte nicht aufnehmen könne. So verzweifelt, wie die Anna damals den Arzt bestürmt hatte, ihr das Kind am Leben zu erhalten, so verzweifelt bestürmte sie jetzt den noch jungen Lehrer, der selbst ein Kind hatte, die Christel noch ein Jahr zurück- zustcllen; sie, die Anna, wolle alles tun, daß die Christel das nächste Jahr ausgenommen werden könne, nur behalten müsse sie ihr Kind dürfen. Herr Heinemann, den die rührende Liebe der Mutter tief bewegte, sagte, sie wollten sehen, wie es übers Jahr sein werde. — Das Jahr verging. Trotz unermüdlicher Bemühungen ivar die Anna mit ihrem unglücklichen Kinde nicht viel weiter gekommen. Mußte dieses doch noch wie ein kleines Kind gefüttert werden. — Wieder war die Zeit der Echulaufnahme gekommen. Klopfenden Herzens mit angst erfüllten Blicken stand die Felber-Anna vor Herrn Heine mann. Dieser hatte herzliches Mitleid mit ihr und sagte, er wollte es mit Christel versuchen, wenn es aber nicht ginge... Und es ging nicht! Immer brach Christel in lautes Lachen aus, das nicht zu enden schien, und nahm damit allen Kin dern die Aufmerksamkeit. Diese verhöhnten sie denn auch, sobald sie sich nur sehen ließ, und nannten sie die „dumme Christel". Die Zeit verging. Unendliche Geduld hatte Herr Heine mann schon angewandt. Bon Zeit zu Zeit war er schweren Herzens ins Felber-Häuschen gegangen; doch jedesmal, wenn er sagen wollte, daß das mit der Christel unmöglich so weitergehen könne, trat ihm die Felber-Anna mit gefal teten, bittend erhobenen Händen und einem flehentlichen Ausdruck in den Augen entgegen, daß er immer wieder mit den begütigenden Worten schloß: „Na, wir wollen sehen." Tausende Tränen hatte die Anna schon um ihr unglück liches, ach, so heißgeliebtes Kind vergossen, und nicht zu zählen waren die heißen Gebete, welche sie zum Himmel geschickt hatte, Christel war nun zwölf Jahre. Im letzten Sommer hatte sie sich körperlich recht gut entwickelt. Sie hatte frische, rote dicke Backen bekommen, war auch tüchtig gewachsen, und ihre zwei starken, blauschwarzen Zöpfe waren ein prächtiger Schmuck. Im kleinen Haushalt hatte sie auch gelernt, der Mutter zur Hand zu gehen. Ganz ordentlich konnte sie aus waschen und die Küche wischen; kam aber jemand und sah sie an, dann hörte sie auf zu arbeiten und lachte unaufhör lich. O, dieses Lachen! — wie das der Mutter in die Seele schnitt und das Herz bluten ließ. Wieder waren zwei Jahre vergangen und die Zeit der Konfirmation herangekommen. Wenn nur diese glücklich vorüber ist, dann habe ich meine Christel zu Hause und dann kann mir niemand mehr etwas sagen, dachte die Felber- Anna. Die Konfirmation mar vorüber und die Christel zuhause; wenn aber die Mutter gedacht hatte, daß es nun besser sein würde, hatte sie sich falsche Hoffnungen gemacht. Die anderen Mädchen waren in Iungmädchen-Dereinigungen, hatten hier und da Geselligkeit und Vergnügen. Christel hörte das alles und wollte auch daran teilnehmen. Sie quälte die Mutter unaufhörlich damit und wollte nicht glauben, daß die anderen sie ja garnicht haben wollten und sich nur über sie lustig machten. Das war erst recht eine böse Zeit für die Felber- Anna, die nun kam, und täglich mußte sie fühlen, daß sich das Schulmädchen hatte viel leichter leiten lassen, als das Heranwachsende Menschenkind. Jahr um Jahr verging. Einige von Christels Mitkonfir- mandinnen— solche, die schon ganz zeitig flügge werden — hatten schon Aussicht auf den eigenen Herd. Was ist ein Jahr für eine kurze Spanne Zeit! Wie lange wirds noch dauern, und keine Mutter von denen, die mit Christel zur Schule gegangen waren, brauchte sichSorge um der Tochter ferneres Leben zu machen. Alle hatten sie dann ihre Kinder mehr oder minder gut versorgt. So mußte die Felber-Anna oft denken. Wenn sie nun sterben müßte und ihr Kind, das nicht die Zähne hatte, sich allein durch die Welt zu beißen, hier lassen mußte ... Eine würgende Angst stieg ihr in der Kehle empor, zu gleich mit der bittern Erkenntnis, daß sie wohl Unrecht getan damals, als sie das Leben ihres Kindes erzwungen hatte. Dieses Kindes, um dessen Wohlergehen ihr Herz ihr Leben lang bluten mußte! In wieviel tausend Gebeten hatte sie dieses blutende Herz ihrem Gott offenbart... Und er hatte nicht geholfen! Nie — nie würde er helfen! Er würde sie mit ihrer unerträglichen Leideslast allein lassen, immer und immer... Fünf Minuten Weges von ihrem Häuschen entfernt stand die Kirche des anderen Landes. Nur eine Wiese war tren nend dazwischen. Dahin gingen Abend für Abend Andäch tige, Schmerzbeladene. Zur heiligen Gottesmutter gingen sie, die die sieben Schwerter in der Brust hat... Sie hatte auch sieben Schwerter — nein, tausend Schwer- ter hatte sie in der Brust! Wie, wenn sie auch zu der Schmer zenreichen ginge und ihr zuckendes, blutendes Herz brächte? Sie würde, sie müßte sie verstehen! Sie würde helfen; eine Mutter kann nicht so grausam sein. Und Anna ging. Ganz allein war sie in der Kirche. Auf den Knien lag sie und breitete ihren unsagbaren Jammer aus —demütig und schmerzzerissen. Und trug doch auf dem kurzen Heimweg im Tiefinnersten einen leisen, leisen Hoff nungsschimmer.