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Mächten des geschichtlichen Lebens tief eingebettet ist. 3n dieser Eingliederung muß er, als zur Tat geschaffen, sein Teil Verantwortung vor der Geschichte fühlen. Sehr groß sind dabei aber die Gefahren einer solchen Wesensanlage, und gegen diese richtet Nietzsche seinen leidenschaftlichen An griff. Der historische Sinn kann leicht dazu verführen, dem geschichtlichen Wissen eine überragende Stelle einzuräumen, sodaß müde Wissende erzogen werden, die tatenunfroh ab seits vom Leben stehen und im Erkennen des ewigen Flusses resignieren. Dann artet die deutsche Wesensanlage zum Historismus aus, und gegen ihn geht Nietzsche mit aller Schärfe vor in seiner gerade vor 50 Fahren erschienenen Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben." Sie ist heute noch so lesenswert wie damals, wenn wir auch heute spüren, daß manche Angriffe längst ihren Erfolg gehabt haben. Mag sein, daß vor 1870 zuviel Deutsche er zogen wurden, die mit einer Fülle historischen Wissens herumliefen und vor lauter Wissenskram von den Forde rungen des Tages nichts hörten. Vielleicht hat Nietzsches Schrift ein gut Teil dazu beigetragen, den unhistorischen Menschen zu erziehen, der nicht nach rückwärts blickt und unnützes Gedächtniswissen verabscheut! der dafür aber das Deutschland des Welthandels, der Industrie, der technischen Hochleistungen geschaffen hat. Spengler ruft heute noch nach diesem Menschen, der lieber zur See fährt als Geschichts philosophie studiert, der praktischer Volkswirt und Politiker nicht aber gelehrter Historiker werden will. Wir wollen uns freuen, wenn Menschen dieses Schlages Deutschland wieder in den Sattel heben; nur haben wir heute mehr als je Grund, daran zu erinnern, daß Nietzsche, der Rufer im Kampfe für den unhistorischen Menschen, aus drücklich gesagt hat: „Das Unhistorische^und das Histo rische sind gleichermaßen für die Gesundheit eines Einzel nen, eines Volkes und einer Kultur nötig." Vielleicht tut es heute not, darauf hinzuweisen, daß wir in den Jahr zehnten unsrer äußeren Blüte eine Kultur, wie wir sie in den großen Zeiten^deutschen Geistes hatten, nicht besaßen. Die vorzeitige spießbürgerliche Selbstbescheidung bei dem, was das junge Reich politisch erreicht hatte, ließ ein inneres Ungenügen, das weiter treibt, nicht aufkommen. So ergibt sich für uns, daß wir den Kampf gegen ein Übermaß des Un historischen richten müssen; denn nur aus einem Levens gefühl, das den Menschen in Goethescher Ehrfurcht vor dem Unersorschlichen an die großen Mächte der Geschichte hin gegeben weiß, das sich dies Erlebnis schlechthiniger Ab hängigkeit, verbunden mit dem Gefühl tiefer Verpflichtung, bewahrt hat, kann eine deutsche Kultur geboren werden. So sind einst deutsche Dome gebaut, so sind deutsche Musik und deutsche Dichtung geschaffen worden. Daß wir dabei nicht wieder in die traumseligen Zeiten des deutschen Michels zurücksinken werden, dafür hat das letzte Jahrzehnt gesorgt. Wenn aber der Deutsche wieder zu einer Kultur kommen will, dann bleibt kein andrer Weg als der gezeigte, der ihm sein ureigenstes Wesen wieder be wußt macht. Diesen weiteren Rahmen zu spannen war nötig, wenn wir die Heimatgeschichte in ihrer kulturphilosophischen Be deutung sehen wollen. Heimatgeschichte fällt im wesentlichen mit der Art Ge schichte zusammen, die Nietzsche antiquarisch nennt, und mit seinen eigenen unübertrefflichen Worten wollen wir sie kennzeichnen: „Die Geschichte gehört auch dem Bewahrenden und Ver ehrenden — dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurück blickt, woher er kommt, worin er geworden ist; durch diese Pietät trägt er gleichsam den Dank für sein Dasein ab. Indem er das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt, will er die Bedingungen, unter denen er ent standen ist, für solche bewahren, welche nach ihm entstehen sollen — und so dient er dem Leben. Der Besitz von Urväter- Hausrat verändert in einer solchen Seele seinen Begriff: denn sie wird vielmehr von ihm besessen. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, daß die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet. Die Geschichte seiner Stadt wird ihm zur Geschichte seiner selbst; er versteht die Mauer, das getürmte Tor, die Rats verordnung, das Volksfest wie ein ausgemaltes Tagebuch seiner Jugend und findet sich selbst in diesem allem, seine Krast, seinen Fleiß, seine Lust, sein Urteil, seine Torheit und Unart wieder. Hier ließ es sich leben, sagt er sich, denn es läßt sich leben; hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen.... Uber weite Jahrhunderte hinweg grüßt er die Seele seines Volkes als seine eigene Seele." A-Wie notwendig es dabei ist, die Heimatgeschichte mit kulturphilosophischer Besinnung zu treiben, das zeigt Nietzsche, wenn er mit aller Schärfe die Gefahr ihrer Ausartung kennzeichnet: „Die antiquarische Historie entartet selbst in dem Augenblick, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Jetzt dorrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eigenen Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zu sammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm, selbst eine bedeuten dere Anlage, ein edleres Bedürfnis durch die antiquarische Manier zu unersättlicher Neubegier, richtiger Alt- und All begier herabzustimmen. Oftmals sinkt er so tief, daß er zu letzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frißt." Diesen Gefahren wird der Mensch, der Heimatgeschichte treibt, entgehen, wenn er es im Sinne Goethes und Nietzsches tut, denen bloße Belehrung nichts ist. Er muß in aller Ehr furcht vor dem dunklen, drängenden, ewig sich wandelnden Leben, das er in der Geschichte seiner Heimat am unmittel barsten spürt, sich selbst als zur Tat bestimmtes Wesen emp finden lernen, das diese Erde an dem Flecke, das ihm Hei mat ist, wohnlicher machen soll, indem es die große Arbeit seiner Vorfahren als Aufgabe für sich selbst fühlt. Das wird eine Liebe zur Heimat geben und zum Daterlande, die allein reiner Menschlichkeit entspringt; eine Liebe, die Voraus setzung einer eigenen bodenständigen Kultur ist. Die Heimatgeschichte wird so eine innere Haltung des Menschen bilden können, die der deutschen Richtung aufs Werden entspricht. Das, was sie als im Laufe der Geschichte zur heutigen Wirklichkeit entstanden zeigt, lehrt sie nicht als etwas forthin Seiendes betrachten, sondern eben, worauf Schopenhauer hingewiesen hat, als etwas „Wirkliches", d. h. Wirkendes, das auch dem Menschen immer höhere Aufgaben stellt. So dient die Heimatgeschichte dem Leben und dem Auf bau unsrer Kultur.