Volltext Seite (XML)
an den unten liegenden Äpfeln gütlich, niemand hatte sich um das Fallobst gekümmert. Immer weiter drangen wir in das menschenleere Dorf ein, auch die treuen Begleiter des Menschen aus der Vogelwelt, Star und Schwalbe, schienen gänzlich verschwunden, während wir vor- und nachher in allen Ortschaften beide beobachten konnten. Nur ein Grün specht zuckte in Wellenlinien über die verlassenen Gehöfte. Bor dem Schulhause machten wir halt. Wie die Stimme eines Predigers in der Wüste wirkte die Inschrift über seiner Türe: „Kommet her, Kinder, höret mir zu; ich will euch die Furcht des Herrn lehren. Ps. 34,12." Wohin mögen sie alle jetzt verstreut sein, die dort im stillen Heidedörfchen einander Gespielen waren? Ein Gleichnis des Menschenlebens, diese vereinsamte, erstorbene Heimstätte! Aus unserm Sinnen weckte uns ein altes Mütterchen, das von einem ziemlich entfernten Dorfe herüber gekommen war, um sich ein paar Lasten Gras zu schneiden; und weiter zogen wir dann durch das ebenso leblose, aber freier in der Landschaft daliegende Zietsch und hinauf auf die Höhe des sich südlich davon erhebenden Ziegen berges, von dem aus links drüben die rauchenden Schornsteine von Schwepnitz sichtbar wurden. Als ob wir aus einem verwunschenen Märchenlande her kämen und wieder in die Wirklichkeit zurücktauchten, so mutete uns der Anblick weidender Rinder und Kartoffeln einsammelnder Landleute vor dem nächsten Dorfe Stein born an. Wir berührten es nur an seinem östlichen Ende und strebten dann dem grün umsäumten Pulsnitztale wieder zu, das wir bei der Gr ünmetz mühle erreichten. Hart am rechten Flußuser auf schmalem Pfade dahinwandelnd, näherten wir uns nun der Stadt Königsbrück, deren schön gegliederter Kirchturm uns von einem stattlichen Rasen hügel herab schon weithin entgegengrüßte. Eine freundliche Bäckersfrau kochte der nun etwas ermüdeten Schar den ver späteten Nachmittagskaffee und mußte dazu ihren gesamten Vorrat an Pflaumenkuchen hergeben. Wohl fielen beim Wiederhinaustreten auf die Straße die Schatten schon etwas länger, doch es galt, das gesteckte Ziel zu erreichen. Darum noch rasch den einfachen, aber freundlichen Marktplatz und die 365 Jahre alte Pulsnitzbrücke besichtigt und hinunter ging es in das Auen tal und hindurch durch die luftige, in Bogen angelegte eiserne Brücke der Dresden-Schwepnitzer Eisenbahn. Dort, wo das romantische Tiefen tal den Lauf der Pulsnitz von Reichenau her aufnimmt, stiegen wir am jenseitigen Ufer wieder zur Höhe hinan und kamen am Granitsteinbruche auf der Scheibe vorüber an die ersten Häuser von Gräfenhain. Noch ein kurzer Marsch auf der bergan führenden Dorfstraße, und wir lenkten unsere Schritte in das Erbgericht, Unterkunft für uns fahrende Gesellen heischend und in freundlichster Weise erhaltend. Da sich unsere Reisegesellschaft nicht trennen wollte, wurde mit drei Betten, die in einem Zimmer standen, vorlieb ge- genommen. Bald waren wir alle nach kurzer Abendbrotrast trotz des anfänglich störenden Pferdegeräusches unter uns von einem erquickenden, wohlverdienten Schlummer um fangen. II. Beim Erwachen am Dienstag Morgen lag dichter Nebel um Haus und Hof, gerade kein angenehmes Zeichen, wenn man eine Bergbesteigung vor sich hat; abertrotzdem schmeckte die heiße Milch prächtig, und hinaus wagten wir uns in das feuchte, auf der Erde lagernde Wolkenmeer. Erst allmäh lich, dann etwas kräftiger, zuletzt ziemlich steil ansteigend, führte uns ein von schönem Hochwald eingefaßter Fußweg f auf den nächstgelegenen Gipfel des 413 Meter hohen Keu lenberges, dessen sattelförmige Gestalt uns ja schon so manches Mal vom heimischen Kupferberge aus gegrüßt hatte. Leider war gerade der Westen in undurchdringliche Nebel- massen eingehüllt, sodaß wir weder die Hainer Pflege noch die Moritzburger Teichlandschaft erblicken konnten. Da wir unfern Aufenthalt auf der Bergeshöhe ziemlich lange aus- dehnten, so glückte es uns aber wenigstens, über die im Osten sich hinziehende nördlichste Bergkette der Oberlausitz mit dem hochragenden Sibyllenstein einen Überblick zu gewinnen. Erleichtert wurde das Auffinden der einzelnen Landschastsmarken durch ausgezeichnete Hinweise auf der Brüstung des hölzernen Aussichtsturmes, der über einer Säule der mitteleuropäischen Gradmessung errichtet ist. Ihm gegenüber steht seit 1818 ein Obelisk, der am 18, September dieses Jahres „dem fünfzigjährigen Vater seiner treuen Sachsen, Friedrich August I., von jubelnden Kindern" ge weiht worden ist. An einem der die Grundlage des Denk mals bildenden Granitfelsen ist ein Medaillonbild des Königs Albert angebracht, und auch des deutschen Volkshelden Bismarck eherne Züge grüßen uns samt der darunter ein gemeißelten Inschrift: „Was Bismarck uns errungen, des Volkes Einigkeit, laßt alle treu uns hüten bis in die fernste Zeit!" Auf die an Rübezahl erinnernde Keulenbergsage vom Bergmännlein, das Holzscheite in Gold verwandeln konnte, wurden wir durch eine leider etwas in Verfall ge ratene Zwergenfigur inmitten einer von Efeu umrankten Tuffsteingrotte hingewiesen. Das Fremdenbuch der Berg wirtschaft enthielt mancherlei launige Erinnerungen an ver unglückte und wohlgelungene Besteigungen des Berges. Nachdem wohl keine Felsenklippe mehr unerklettert und kein Spalt nach Geheimnissen undurchsucht geblieben war, stiegen wir zwischen dichten Gebüschen des rotbeerigen Hirschholunders wieder abwärts, bis uns der Bergwald abermals aufnahm, der dann später von frischgrünen Wiesen und Erdgeruch atmenden Feldern abgelöst wurde. Stramm marschierten wir nun durch Oberlichtenau und Friedersdorf auf die Stadt Pulsnitz los. Um die teilweise Eintönigkeit der Kunststraße zu überwinden, wur den die Schritte von einem Kilometerstein bis zum andern abgezählt, bis Fritzens allzu große Sprünge den Einspruch seiner Kameraden gegen diesen unlauteren Wettbewerb zur Erreichung einer möglichst niedrigen Schrittzahl hervorriefen. Ehe noch der wichtige Streit entschieden war, kreuzte ein Bahngleis unfern Weg, und Pulsnitz war erreicht. An der Ecke der Bahnhofstraße vor einer Lebkuchenfabrik wehte uns ein warmer, süßer Duft um die Nase, und wir wußten nun ganz genau, daß wir in die Pfefferkllchlerstadt eingezogen waren. Eine alte Postsäule, auf der Städte-Entfernuugen bis zu 56 Stunden angegeben waren, erregte zuerst unsere Aufmerksamkeit. Auch unsere Vaterstadt war als „Hain" darauf verzeichnet. Wie gestern in Ortrand, so unternahmen wir auch heute wiederum zuerst einen Rundgang, ehe wir in die Mitte der Stadt eindrangen. An mehreren Band webereien und Färbereien vorbei gelangten wir bald an das Geburtshaus Rietschels, des Beutler- und Küstersohnes, der den Namen seiner Vaterstadt als einer der größten Bild hauer des neunzehnten Jahrhunderts berühmt gemacht hat. In der Pulsnitzer Nikolaikirche steht vor dem Altarraum die Nachbildung der von Rieischel geschaffenen Mutter Gottes am Leichnam ihres Sohnes, und den Pulsnitzer Friedhof ziert das eigenhändig von ihm in dankbarer Liebe gearbeitete Grabmal seiner Eltern. Aus seinem Geburts-