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Die empfindsame Zeit im Seifersdorfer Tal Bon Stud.-Ass. Herbert Sticht, Ohorn (Schluß) Das ist die ethische Struktur der empfindsamen Zeit, wie sie in den Denkmälern im Tal erkenntlich wird: Aus strömen und Selbstgenuß des Einzelwesens im Universum! Und die Natur ist das Medium, mittels dessen sich dies vollzieht. Sah schon der Rationalismus im 17. Jahrhundert in der Natur die Verkörperung eines allweisen Schöpfers, hatte dann der Pietismus die ganze Natur innerhalb dieses Ideenkreises mit frommen Gefühlen erfüllt, so kam man jetzt auf dieser Bahn zum Höhepunkt: dorthin, wo Goethes Werther steht. Man erlebte den Gesang des Universums in der Natur: Das Wogen der Saaten ist ein Dithyrambus... die Morgenröte spricht... das Sonnenlicht küßt.... der Tau des Grases wird zu perlenden Tränen ... kurz, jede Landschaft wurde bei der willenlosen Hingabe an die Natur zum Widerhall des eigenen Gefühls. Und weil nun das Gefühl nur auf das zu erstrebende Gute eingestellt war, mußte sich die Naturauffassung, der seelischen Gesamtverfas sung des Individuums entsprechend, notwendig in der glei chen Richtung bewegen. Infolgedessen suchte man auch nur die Anmut in der Natur, wie die angeführten Verse an den Denkmälern es ja kundtaten, aber den vollen Ton der Landschaft ver mochte man noch nicht in sich aufzunehmen. Wie sollte man auch! — Denn das Erhabene in der Natur war noch unbekannt; das offenbarte sich erst im Gefolge des damals mit der Besteigung des Montblanc und des Großglockners beginnenden Vordringens in die Welt der Alpen. Und daß man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anfing, im freien Wasser zu baden — was auch Goethe eifrig propa gierte—spricht nicht dagegen, sondern beweist eher die Rich tigkeit des Gesagten. Diese neue Sitte, von den aristokra tischen Geschlechtern sofort ausgenommen und gepflegt, hatte natürlich bald in Seifersdorf Eingang gefunden, und im Tale ward eilig für ein „Naturbad" gesorgt (29). Noch heute erkennen wir gegenüber der Herdersäule, wo die Röder scharf rechtwinklig umbiegt, seine gemauerten Reste. — In melodischen Versen strömte dieser neue, vorher unbekannte Genuß der Anmut in der Natur hier aus: „Nicht im Getümmel, nein, im Schoße der Natur, Am Silberbach in unbelauschten Schatten Besuchet uns die holde Freude nur Und überrascht uns ost auf einer Spur, Wo wir sie nicht vermutet hatten." — 12. Entweihung, Überwindung und Ausklang Schließlich griff empfindsames Denken und Fühlen — wovon am Beginn dieser Ausführungen ausgegangen wurde — auch auf das Bürgertum in den Städten über. Der Boden dafür mar gut vorbereitet; denn die Robinsona- den und Gellerts empfindsame Lustspiele und Romane, die man mit Begeisterung ausgenommen hatte, wiesen den Weg in dieser Richtung. Der Bürger wandert also jetzt aufs Land, seine Vorliebe für ländliche Freuden beginnt. Die Natur ist ihm indessen nur der erträumte Gegensatz zur Stadt: Hier Schuld, Sünde, Zwang, Verderben — dort, wo die Lüfte reiner wehen, Unschuld und Freiheit. Im „Zaubergrund" zu Seifersdorf war's dem weichen Stadtbürger leicht gemacht, den fingierten Gegensatz von Stadt und Land als Wahrheit zu empfinden. Denn das Tal wurde ja offensichtlich am unteren Eingänge von zwei Göt tern bewacht, die darauf sahen, daß nichts von städtischer Verdorbenheit hier eingeschmuggelt ward. Die Statue des einen, des Hirtengottes Pan, ist heute verschwunden (31), aber der andere hält noch Wacht — Amor, der gefährliche kleine Kerl (27)! So kam es, daß der Residenzler, welcher infolge seiner wohlabgewogenen Sitten streng auf Anstand hielt, vollauf Genüge fand in der empfindsamen arkadischen Welt, die ihn im Tal umgab, und nicht imstande war, etwas von dem vorhandenen tieferen Stimmungsuntergrund der Anlagen zu erfassen. Für ihn waren deshalb in erster Linie die Inschriften bestimmt, die sozusagen als Leitmotive zu ihm reden sollten. Die sächsische Bolksart neigt nun einmal zur Weichheit, und darum wollte der Besucher aus der Stadt eine Ansprache an das Gemüt, wenn er sinnend vor den von Neuheit glänzenden Denkmälern stand, die Tränen der Rüh rung im Auge ... Jedoch das Zeitenrad rollt unaufhaltsam weiter! Des- halb fand die empfindsame Gedankenwelt gar bald Gegner, abgesehen davon, daß ihr Ausdrucksvermögen sich schließ lich von selbst erschöpfte. Die Geister, die sich im Taumel bewährt hatten, gewannen das Ohr der Nation, und aus ihrem Wirken entstand eine geistige Strömung, die weniger die subjektiven enthusiastischen Lebensäußerungen festhielt, als vielmehr die neue seelische Einstellung verstand und sozu sagen kritisch erlebte. Nur aus dieser Perspektive ist das schroffe Urteil Schillers recht zu begreifen, welcher das Seifersdorfer Tal von Loschwitz aus kennengelernt haben mag, als er Gast im Körnerschen Hause war. Sch. sagt am Schluß einer Rezension des Gartenkalenders für 1795: „Das