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digen abqeschnitten war und sich dort ganz vereinsamt und verlassen fand, wenn nicht etwa der Totengräber mit seinem Kopfe aus einem tiefen Grabe, das er eben ausschaufelte, herausguckte. Und namentlich schien mir es da hinten nicht mehr geheuer, seit mir an der Hinteren Kirchenseite parterre ein zerbrochenes Kirchenfenster gezeigt und dabei gesagt wurde, daß dort „Schälke" eingebrochen seien, die auch, wie ich gehört zu haben glaube, die zinnernen Altarleuchter aus der Kirche gestohlen haben sollten, und seit ich dort auf der niedrigen steinernen Fensterbrüstung von dem zerbrochenen Fenster sogar noch die Glasscherben (als corpus cielicti) liegen sah. Dann und wann kam es auch wohl vor, daß der Papa einen fremden Besuch auf den Kirchturm führte, um ihm die Aussicht und die Glocken zu zeigen und wir Jun gens plagten dann solange, bis wir auch mitgehen durften. Eine Uhr gab es damals noch nicht im Kirchturme, sonst würde mich das klappernde Tiktak des großen Perpendikels, das Rutschen der gigantischen Zeigergewichte und das Rau schen des Räderwerks beim sogenannten Ausholen und besonders das Viertel- oder Stundenschlagen gewiß bald hinweggejagt haben. Wurde ich des Sonntags von der Mama manchmal mit in die Kirche genommen, so saß ich großgünstig mit in dem sogenannten Pfarrstande, nämlich in einem Gitterstande, so daß ich den Altar linkshin vor mir und die Kanzel mir gegenüber hatte und vertrieb mir, da ich doch eigentlich Langeweile hatte, die Zeit inzwischen mit den allerhand Fußbänkchen oder Klötzchen, die ich unten im Pfarrstande fand, mußte mich aber freilich hüten, während der Predigt damit zu poltern, sonst wurde mir diese Hantierung von der Mama gelegt. Eine kurze Unterhaltung gewährte mir es auch, wenn die kleine Kanzeluhr die Viertelstunden mit ihrem Glöcklein pinkte. Außerdem unterhielt ich mich wiederholt damit, nach den grell gemalten biblischen Bildern hinzublicken, die sich reihen weise an den Emporkirchen der Männer mir gegenüber vor fanden. Mit großem Respekte sah ich da die große Arche Noahs in der düstren Sündflut schwimmen und die Tierlein paar weise einmarschieren oder den babylonischen Turm mit seinen Schneckenwegen oder auch den ungeschlachten Riesen Goliath mit seinem gewaltigen Speere und den kleinen David mit seiner Schleuder. War ich mit den Bildern durch, so beschäftigte meine Auf merksamkeit auch eine kleine Weile die an den Empor kirchen über den Köpfen der Männer Herunierstarrenden eisernen und hölzernen Haken, die in mannigfachen Gestalten, gleich wie Quirle und Fleischgabeln oder Kreuze, bald in runder, bald in eckiger Form vorhanden waren, um die Hüte oder Pudelmützen der Männer aufzunehmen. Eigentümlich aber war es, daß ich mir damals die Zierat am untern Ende der Kanzel, die wohl eigentlich eine Art Artischocke oder Ananas darstellte, nicht anders als die Verkörperung eines P—pses dachte und ich war mit mir darüber völlig einig, daß dies seine ausgemachte Richtigkeit habe. Ging der Kirchvater mit dem Klingelbeutel herum, so er öffnete sich für mich wieder ein neues Feld der Betrachtung, ihn und seine lange Stange auf seiner Bahn zu verfolgen und ich däuchte mich schon groß, wenn ich den Pfennig der Mama in den klingelnden Beutel hineinstecken durfte. In den Weiberständen nahm ich wahr, wie die Weiber einander viele Stellen entlang die Kirchsträuchel zum Riechen darreichten und in den Mäunerständen war es nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, wie da und dort ein alter Mann selbst während der Predigt sein gewöhnlich bei sich habendes Stümpfchen Brasilier Tabak aus der Tasche herauslangte und damit auf dem kleinen Reibeisen laut zu reiben anfing, den geriebenen Tabak sich auf die auswendige Fläche der Hand schüttete und die nun ganz steif gehaltene Hand seinen Nachbarn, so weit er langen konnte, herumreichte, wie jeder sich davon eine frische Prise nahm und er selbst endlich in seine selbsteigene Nase hineinschnarchte. Es war dies ein auch während des Gottesdienstes so überhand genommener Gebrauch, daß sich außer mir Niemand darüber zu wundern schien. Wenn nun endlich das Predigen und Singen zu Ende war und der Papa vor den Altar trat und den Segen sang, den manche alte Leute halblaut mit summten, so machte es mir wieder eine Unterhaltung, wenn die gesamten Kirchleute von ihren Sitzen aufstanden und sich in gewissen Perioden andächtig neigten und beugten. Ich verstand aber damals die Worte „Der Herr", mit denen der Papa allemal seinen Satz beim Altarsingen begann, nie deutlich, sondern ich bil dete mir ein, der Pfarrer singe immer: „Gärtner", bis ich auf Befragen, warum immer Gärtner gesungen würde, das Wahre erfuhr. Eine Hauptfreude war nun allerdings die Christnacht in der Kirche für uns, wenn die großen, zum Teil mit Schnee drapierten Kirchenfenster zauberisch glänzten und wir in der Kirche, aus der Posaunenklänge heraus schallten, ebenfalls ein Wachsstöckchen anzünden durften. Oben und unten und auf allen Seiten flimmerten dann in der Kirche Lichter und Wachsstöcke und es gab sogar Jungens, welche sogenannte Schlangen, mit brennenden Wachsstöckchen bespickt, auf den Emporkirchen vor sich aus streckten und abwechselnd aus- und einwärts schoben. War einmal sonst nichts los, so gab es doch dann und wann Bettelleute, die unsere Aufmerksamkeit erregten, z. B. böhmische Bettelweiber in ihrer eigentümlichen Tracht mit den über den Kopf gehangenen großen Tüchern und ihrer fremdartigen Aussprache. So war es uns noch lange hinter- her wichtig, als ein paar solche böhmische Bettelweiber mit gellender Stimme und vielem Getriller, nicht ohne eigenes Wohlgefallen, geistliche Lieder in unsrer Hausflur absangen und es tönt mir noch heute vor den Ohren, wie jene Weiber den Refrain des einen Liedes: Freude, Freude über Freude! Christus wehret allem Leide. Wonne, Wonne über Wonne! Er ist die Gnadensonne mit Todesverachtung immer lauter und immer gellender wiederholten, und wie sie in einem zweiten Liede die bei jedem Verse wiederkehrenden Schlußworte: „Schweig still!" oder wie sie es betonten: „Schwinnig stiell!" allemal äußerst widrig verhallen ließen. Mehr Spaß machte uns einmal ein langer dürrer Bettel- mann, der an der Kirchmeß um Kuchen ansprach und, als er keinen bessern, als den für seinesgleichen besonders ge backenen sogenannten Bettelkuchen erhielt, der zwar eine etwas dunkle Farbe hatte, weil er nur von Mittelmehle ge backen sein mochte, dennoch aber mit einem schönen gelben Aufguß von Käse oder Quark versehen war, das erhaltene große dreieckige Stück Kuchen sofort in der Hausflur auf den Vortisch des dort stehenden „Zinnschrankes" still schweigend hinwarf und mit ungeheuren großen Schritten