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Dann gingen sie über die Blumenwiese auf ein herrliches Schloß zu, das zwischen blühenden Gärten lag. Und je näher sie kamen, desto mehr Zwerge begegneten ihnen. Die blieben alle stehen und sahen ihr nach, aber ihre Stirnen waren voll Sorgenfalten und in ihren Augen schimmerte es wie von Tränen. Zuletzt traten sie in das Schloß und kamen in einen Saal, der war so dunkel wie der Nachthimmel und nur die Sterne, die an der Decke glühten, verbreiteten einen milden Schein. Da saß auf einem kleinen Thron der Zwergkönig, der trug über seiner roten Kapuze noch eine feine goldene Krone. Den Kopf hatte er sorgen schwer aufgestützt und seine Augen blickten ins Weite, so daß er Tugendreich garnicht bemerkte. „Warum seid ihr denn alle so traurig hier im Märchenlande?" fragte das Mädchen. Der Zwergkönig fiel beinahe von seinem Purpurkissen, als er die fremde Menschenstimme hörte, denn das war-— wie gesagt — seit hundert Jahren nicht mehr vorgekommen. Erst als Hümpeldick, der kleine Torwächter, Bericht erstattet hatte, da ging ein freundliches Leuchten über die Züge des greisen Königs, das aber bald wieder einem bekümmerten, zweifelnden Ausdruck wich. Dann winkte er mit der Hand und sofort traten zwei weitere Zwerge herein, die trugett auf goldenen Tellern edles Geschmeide und kostbare Steine, daß es nur so flimmerte. „Das schenken wir dir!" sagte der König zu Tugendreich, die so etwas wohl noch nicht gesehen hatte, aber dennoch wußte, daß es Gold und Edelsteine waren. - „Dank'schön, aber das brauche ich nicht!" antwortete sie mit einem Knix. Da ging es wie ein leises Donnern durch den Saal. Die Edel steine waren verschwunden und statt ihrer rankten sich tausende von Rosen an den Wänden empor, die einen wundersamen Duft verbreiteten. Und oben zwischen den Sternen erschien der Mond und begann zu leuchten, daß alles mit einem weißen Lichtscheine übergossen wurde. Die drei Zwerge aber jubelten und tanzten und warfen vor Freude ihre Kapuzen in die Luft und selbst der König klatschte vor Freude in die Hände. Das ist das rechte Mägdelein, Mag weder Gold noch Flimmerschein, Es trägt den schönsten Edelstein, Sein Märchenherz ist gut und rein! sangen sie alle, denn Tugendreich hatte die Probe bestanden. Und der König sprach: „Es ruht ein schlimmer Zauber über dem Märchenland. Wenn es keinem Menschen glückt, hineinzugelangen, um den Menschenkindern von ihm zu erzählen, dann wird es immer kleiner und immer dunkler. Nach fünfzig Fahren erlischt die Sonne, nach hundert Fahren der Mond, immer enger rücken die Mauern zusammen und wenn noch ein Jahr vergeht, ohne daß ein gläubiger Mensch unser Land findet, dann löschen die Sterne aus und das Reich versinkt für immer in die Erde. Und gestern war gerade das hundertste Jahr um und tiefe Trauer befiel uns. Denn die Menschen wollen nichts mehr von uns wissen und brauchen unsere Hilfe nicht mehr. Sie machen alles mit Apparaten und künstlichen Maschinen und haben Schattenbilder in ihren Kinos, die ihnen lieber sind als unser Märchenleben. Nur ganz wenige Kinder glauben noch an uns, — aber wollen wir uns einem von ihnen nahen, wie früher des Abends in dunkeln Stuben und Ecken, dann macht das Kind mit einer Schachtel an der Wand „knips!" und eine blendende Helle flutet aus einer Birne von Glas, daß wir garnicht schnell genug fliehen können. Über hundert Gebirge und Wälder erstreckte sich früher unserReich, aber die Menschen legen Wege und Straßen an und machen alles „modern", und nun umschließen die grauen Mauern schon mein Schloß mit dem Blumengarten und die draußen haben vergessen, wo es liegt. Kommt aber wirklich einmal einer, dann will er mit unseren Märchen und Geheimnissen nur Geld und immer wieder Geld erraffen und dann fällt jedesmal ein Stern herab und draußen im Garten welken die Blumen und verderben die Früchte. Mancher ist dagewesen, aber keiner hat unsere Art recht Verstanden und so Lüge und Aberglauben über uns verbreitet. Das drucken die Menschen dann und lesen es und verdienen viel Geld damit. Nun kann uns nur noch einer erlösen, i» dessen Herz reiner, starker Märchenglaube wohnt. Dem wird dann das ganze Leben ein Raunen und Rauschen von stillem, innerem Glück und wir helfen ihm: alles, was er sieht und anfaßt und tut, wird ihm zu eitel Leuchten und Sonnengold, doch so, daß nur er allein es ge wahr wird. Die Menschen nennen ihn dann einen Dichter und lachen über ihn und erst wenn er tot ist, machen sie Vereine mit seinem Namen und rühmen ihn und beginnen ein wenig zu ahnen, daß er einer von den glücklichsten Menschen gewesen ist, weil er das Weben des Märchenlandes in sich trug und seine Augen alles golden sahen." Dann schwieg der König und alle die kleinen Zwerge, die den ganzen Saal erfüllten, standen still und traurig, wie in schwerem Kummer. Tugendreich aber sagte mit fester Stimme: „Ich werde den Menschen von euch erzählen und von eurem Märchenreich!" Da nickte ihr der alte Zwergkönig dankbar zu und reichte ihr eine goldene längliche Kapsel. Und indem er mit der Hand ihre Augen berührte, sprach er: „Immer, wenn du den Menschen von uns kündest sollst du sehend sein für die Dinge, die andere Sterbliche nicht erschauen können. Dann wirst du unser Leben sehen, als ob du unter uns weiltest und wirst Macht haben über Zwerge und Gnomen, Kobolde, Nixen, Elfen und Feen, Hexen und Geister überall, wo sie noch weben und raunen in Berg und Tal und Wald. Und da du ein kleines, schwaches Mädchen bist, so warte, bis einer kommt, der älter und stärker ist und ein Herz für uns hat, ein warmes, schlagendes Märchenherz gleich dir: dem gib diese goldene Kapsel, damit er weiter ver breitet, als du es vermagst, daß wir noch leben und daß unser Reich noch nickt untergegangen ist. Dann, wenn einst diese Kapsel von rechter Hand geöffnet werden wird, dann wird an unserem Himmel die Sonne wieder scheinen und mit ihren Strahlen uns wieder neues Leben, Freude und Liebe zu den Menschen geben. Und dir selbst, kleine Tugendreich," — und dabei legte der Zwerg dem Mädchen die Hand auf das blonde Lockenhaar — „dir wird das schönste und beste werden, was einem Menschenkind geschehen kann, wenn es unseren Märchen glauben besitzt!" Ein leises, grollendes Donnern ließ die Erde erbeben, wie wenn ein Wagen über eine Holzbrücke fährt oder eine schwere, mächtige Tür zuschlägt. Da lastete die kleine, blinde Tugendreich um sich und fühlte die Wiese und die Brombeerranken mit ihren Händen Und von fern und nah tönte das Läuten der Kuhglocken an ihr Ohr und sie merkte, daß es Abend war und die Tiere sich sammelten, um ihren Ställen zuzustreben. » * * Vor Jahren kam ich auf einer Fußwanderung ins Riesengebirge. Ein heftiges Gewitter überfiel mich, so daß ich froh war, in einem kleinen Dörfchen in der Gegend des Rübezahlberges ein Unter kommen zu finden. Und erst, als ich länger dort verweilt hatte, erschloß sich mir die tiefe Schönheit dieser Gegend, die mit den Augen der Liebe erobert und gesehen sein will, um dann doppelt dankbar zu leuchten und Herz und Sinn zu durchwehen, wie der Duft einer geheimnisvollen Sonnenwendnacht-Blume im tiefen einsamen Walde. Wie dem Lande, so lernte ich auch seiner Bewohner Vertrauen zu gewinnen, ihre schönen Sitten und Eigenarten abzulauschen, bis sie dem Fremden als einem der ihren ihr Herz öffneten. Im letzten, ärmlichsten Häuschen des Dorfes wohnte eine alte Muhme, die den seltenen Mädchennamen Tugendreich trug und seit ihrer Kindheit blind war. Alle Leute hatten sie lieb und be- dachten sie mitPflege,Speise undTrank. Man schrieb ihr geheimnis volle Gaben zu und von ihren Tränken und Sprüchen genasen dieMenschen.gediehdasViehundgrüntenundblühtendieWeiden, — ja, es war, als ob sie mit dem Volke der Heinzelmännchen und Zwerge im Bunde stände. Und nie hat einer gesehen oder gehört, daß sie für ihre Wohltaten Geld genommen hätte.