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sich dann in ihr Mädchenstübchen, um in stiller Verschwiegen heit, wie schon einmal in ihrem Leben, ihr Leid auszuweinen. Aber ihre Natur war stärker als der Wille zu weinen, mit den Tränen an den Wimpern entschlief sie zu traum losem Schlummer. Am andern Morgen weckte sie der Klang der Glocke, die zum ersten frühen Gottesdienst rief. Dem Pfingstsonntag leuchtete das hellste Sonnengold, und ein stahlblauer Himmel stand über der Welt. Wie gern hätte sie den Gottesdienst besucht, aber sie wagte sich nicht von der Mutter weg. Sie kleidete sich rasch in ein sommerliches Sonntags gewand, legte ihr volles Haar in einen schlichten Knoten und sprang behutsam die Treppe ihres geliebten Heimat häuschens herab, leise, denn die Mutter schlummerte noch. Vorsichtig öffnete sie die Haustür, und fast vermochte sie nicht, sich zu halten. Ein leiser Schrei entrang sich ihrem Inneren. Zu beiden Seiten der Tür standen, in großen Kübeln, zwei wunderbare lichtgrüne Birkenbäumchen, die silber hellen Stämme leuchteten im Sonnenlicht, und der sanfte Morgenwind, der von den Bergen kam, ließ die Blätter in leisem Rieseln gegeneinander spielen. Unwillkürlich dachte Hilde an ihren Bruder, sollte er doch — zurückgekehrt sein? Aber da trat plötzlich — fast traute sie ihren Augen nicht — ein Anderer hinter der Linde hervor, die das Gartentor be schattete. Er sah schmuck und festlich aus und streckte die Hände über den Zaun nach Hilde aus. Mit weilen er- schrockenen Augen sah sie ihn an, aber er hatte ihre Hand gefaßt und ließ sie nicht los. ' .Hilde!" Einen Augenblick war es still zwischen ihnen. „Wie kommst Du hierher, Frieder?" fragte sie und ihre Stimme hatte einen spröden Klang, ihre Zunge war trocken und schwer. „Ich bin seit kurzem hier angestellt, wenn Du es noch nicht wissen solltest, Hilde," sagte er mit einem Anflug von Bitterkeit. .Daheim?" „Ja, Glück, nicht?" „Freilich, da kannst Du lachen, ich gratuliere Dir, mir erzählt ja niemand von Dir, das weißt Du ja." „Und Deine Mutter, wie geht es ihr?" fragte er zögernd. „Blind, Frieder!" Sie schwiegen beide. Dann deutele Hilde mit einem still fragenden Blick auf die Birken. „Claus schickt sie Euch, hier, lies, bitte!" klärte er sie auf und reichte ihr einen Brief. Mit zitternden Händen griff Hilde darnach: er war an den Lehrer Frieder Brehme gerichtet. Worte, mit fremden Zügen geschrieben, flimmerten vor ihren Augen. Kaum ver mochte sie zu lesen: „Geehrter Herr! Aus den Papieren meiner Nichte Johanna Bürger, die vor einigen Jahren unten in Südrußland in einem Lazarett einer Seuche erlegen ist, und deren Sachen Bücher, Briefe mir erst kürzlich durch Zufall wieder zugestellt worden sind, entnehme ich beifolgenden Brief, der dem Datum nach ihr kurz vor ihrer Erkrankung, wahrscheinlich von einem totkranken Gefangenen über mittelt worden zu sein scheint. Ich möchte nicht verfehlen, ihn dem rechtmäßigen Be sitzer baldmöglichst zuzustellen. Hochachtungsvoll Reinhard Bürger." Und dabei lag ei« zerknitterter Brief mit Claus', ihres Bruders, Schriftzügen. Und Hilde grub ihre Augen in das Papier. „Lieber Frieder, Dir ist viel Leid von unsrer Familie geschehen, aber Du bist mir immer ein lieber Freund gewesen. Ich weiß, daß ich an dieser schrecklichen Seuche, die hier umgeht, zu Grunde gehen werde. Daheim muh es bald Pfingsten sein, hier im Lazarett wissen wir nichts davon, nur täglich lasse ich mir von der Schwester das Datum nennen, sie ist ein famoses Mädel und wird Dir den Brief bestellen. Pflanz meiner Mutter zwei Birkenstämmlein vor die Tür in meinem Namen und sage ihr, daß ich sie grüßen lasse. Eie liebte den Duft der Birken so sehr. Dein Claus." Da« Datum des Briefe« war schon ein paar Jahre alt, aus jener furchtbaren Zeit des Weltkrieges. Erschüttert stand Hilde dem Jugendfreunde gegenüber. „Nun hast Du Deinen Auftrag ausgesührt, ich danke Dir, Frieder," sagte sie schlicht. „O, wie wird Mutier sich freue«. Aber — wie werden wir ihr beibringen, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilt? Noch hofft sie, und die amtliche Bestätigung seines Todes haben wir noch nicht in Händen." Frieder Brehme steckte den Brief wieder in seine Brust tasche. Hilde war zu ihm auf den Weg getreten, und nun gingen die Zwei zusammen vor dem Hause auf und ab, und sie erzählte dem Freunde von ihren Zukunftsausfichten und der ganzen Hoffnungslosigkeit ihres jungen Lebens. Da legte er plötzlich den Arm auf die Schulter des jungen Mädchens, daß sie stehen bleiben mußte gleich ihm. „Hilde, da gibt es nur einen Ausweg, Du mußt mich heiraten, und dann ziehen wir zu Deiner Mutter, und wir können sie mit Liebe umgeben. Jetzt darf sie ihre Einwilli gung nicht mehr versagen." In Hildes Augen glänzten Tränen. „Frieder, Du wolltest wirklich, hast keinen Groll mehr gegen die, die Dich beleidigt und zurückgestoßen?" Er schüttelte heftig den Kopf mit dem vollen Haarschopf. „Hilde, Du weißt doch, wie lieb ich Dich immer gehabt, und wie gern ich, wenn ich gekonnt, Dir ein Königreich zu Füßen gelegt hätte. Die Deinen wollten mich damals nicht, heute vielleicht habe ich mehr Glück." ' Vom Hause her rief die Stimme der alten Dame. Hilde lief eilig zurück und verschwand bald hinter der Tür. Sie hals ihrer Mutter sich ankleidsn und führte sie die Treppe herunter bis »or das Haus. „Mütterchen, merkst Du nichts?" „Maien?" sagte die alte Dame. „O, wie sie duften!" „Claus läßt Dich grüßen." Da tasteten die Hände der Blinden nach den zitternden Zweigen. „Claus!" rief sie wie verzückt, „siehst Du, er hat unser nicht vergessen, ich habe nicht umsonst gewartet. Wo ist er?" Wieder tasteten ihre Hände ins Leere, als ob sie den Verlorenen suchen wollten. „Er ist nicht hier, Mütterchen!" „Wer aber stellte uns die Birken auf?" Da trat Frieder Brehme auf die Beiden zu, er hatte alles mit angehört. „Gnädige Frau, das tat ich in Ihres Sohnes Auftrag," sagte er ernst und fest. „Die Stimme scheint mir nicht unbekannt, nur — lasten Sie mich Nachdenken."