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Vom „Wilden Mann" Bon F. R. in Schirgiswalde gibt nicht nur in Dresden den „Wilden Mann". Auch anderwärts. Unweit der sächsischen Landcsgrenze in der Lausitz liegt auf böhmischer Seite das wohl- bekannte Städtchen Schlucken««. Vor dem Kriege wanderten genug Dresdner durch diese Stadt, kamen wohl auch in mächtigen Lastautos, singend und schwatzend, vom Botzenberg herabgerattert, um durch die Dresdner Straße auf den weiten, schönen Markt einzubiegen. Und wenn die modernen Wanderer dann durchs Städtchen schlenderten, um nach den besten Bierquellen zu fahnden, so stieß manch einer verwundert auf den Namen" „Gasthaus zum Wilden Mann." Wie kommt Schluckenaus Bierhalle zu dieser Bezeichnung? Nicht wenige der Dresdner Leute vermuteten, daß dieses Bierhaus sich zu Ehren des „Wilden Mannes" zu Dresden also betitelt habe. Keineswegs. Der Gastwirt, genannt der alte Reichenauer, hat so manchen der verwunderten Gäste aufgeklärt, weshalb das Städtchen Schluckenau sich mit Fug und Recht erlauben darf, eine seiner Gaststätten „Zum Wilden Mann" zu benennen. Im vorigen Jahrhundert fand noch in bestimmten Zeiträumen von einigen Jahren das Jagen des Wilden Mannes zu Schluckenau statt. Ich kann mich aus meinen Knabensahren noch recht gut der Aufregung besinnen, die sich in der ganzen Gegend bemerkbar machte, wenn Zeitungen und große Zette! die Botschaft brachten: Am so und süvielten findet das Jagen des Wilden Mannes zu Schluckenau auf dem Markte statt. Das war ein Ereignis für Alt und Jung. Ich habe einmal dieser wahrhaft wilden Jagd beigewohnt, und mein sehnliches Ver langen war es stets, meinen Kindern dieses Bolksschauspiel zeigen zu können. Leider scheint das Jagen des Wilden Mannes auf Schwierigkeiten zu stoßen. Die tschechische Soldateska soll die Requisiten zu den Festwagen zu Feuerholz verwendet haben. Das Jagen des Wilden Mannes zu Schluckenau beruht auf einer Sage. Ein historischer Hintergrund scheint aber dabei zu sein. Erhielten doch die Schluckenauer Bürger nachweislich von ihrem Grundherrn zur Erinnerung an den Wilden Mann die Erlaubnis, von Zeit zu Zeit den Wilden Mann jagen zu dürfen. Es war in den zu Ende gehenden 70 er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als ich zur Schau der Wilden Jagd gehen durfte. Je näher wir dem Städtchen kamen, desto lebhafter wurde das Treiben auf der breiten Kaiserstraße, die über den gewaltigen Botzenberg führt. Kutschen, Leiterwagen, vollgepfropft mit Menschen, Fußgänger ohne Zahl, strömten nach Schluckenau. Als der Berg überschritten war, sah ich das Städtchen liegen. Nach einer halben Stunde wanderte ich durch die Dresdener Straße dem Markte zu. Wie die Mauern standen die Menschen. Soviel Leute hatte ich noch nie beisammen gesehen. Lange mußten wir, eingepfercht in die lärmende Menge, stehen und warten. Damals war ich noch ein Junge von 12 Jahren, konnte mithin nicht über die vor mir Stehenden hinwegsehen. Ich kam aber gar bald dahinter, daß, wenn ich mich kauerte, zwischen den Beinen der Menschen immerhin die Möglichkeit bestand, einen Ausblick zu gewinnen. Und so habe ich denn, zahllose Püffe, Tritte und Verwünschungen lieber Mitmenschen abgerechnet, das grausige Schauspiel verhältnismäßig ganz gut sehen können. Ich sah die Häscher daherschreiten, angetan mit bunten, mittel alterlichen Gewändern, wie sie nuszogen, den Wilden zu fangen, sah, wie auf einmal ein schrecklich aussehender, wahrhaftiger Wilder Mann dahergestürmt kam, sah die wilde Hatz auf dem weiten Markte. Und zuletzt der grausige Schluß! Sie hatten ihn gefaßt und stießen dem fürchterlichen Manne ein blitzendes Messer in die Brust. War cs Wirklichkeit? Ein Blutstrahl sprang auf. Rot färbte sich die Erde. Der Wilde Mann war gefangen und getötet. Wie ich heimgekommen? Ich weiß es nicht mehr. Der Vater hat mich gesucht Ader in dieser Stunde hatte ich kein« Gedanken an ihn. Er fand mich nicht. Die Blutlache fesselte mich. Lange, lange habe ich daneben gestanden und hörte auf die Neden der Leute, die sich zahlreich herbeidrängten und ihre Meinung darüber Kundgaben, ob es wirklich ein Wilder Mann gewesen, ob er in Wahrheit getötet sei und dergl. Biele, das höre ich noch heute, behaupteten steif und fest, der Wilde Mann sei ein zum Tode verurteilter Verbrecher gewesen, der nunmehr auf diese Weise umgebracht worden wäre. — Erst spater wurde mir erklärt, daß der „Gejagte" eine Blutblase auf der Brust getragen, die der Stich des Häschers durchbohrt habe. Wie kommt aber Schluckenau zu diesem historischen Schauspiel ? Hören wir, was die Sage erzählt: Es war zur Zeit, da auf der Burg Tollenstein ein Ritter aus dem Geschlechte der Herren Berka von Duba saß. Der Arm der Tollensteiner Ritter reichte weit, und mancher Kaufherr hat seine Kraft gespürt, wenn er auf der Landstraße mit seinem Wagen gen Zittau oder Bautzen zog. Nun hatte der Ritter einen bös artigen Knappen, Knaul geheißen. Der war ein gewalttätiger Mensch und gefürchtet unter dem Troß des Tollensteiners. Er war gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Jedermann ging ihm aus dem Wege. Kein Mittel war ihm zu schlecht, seine Pläne zu erreichen. Er hatte schon manches Mädchen und auch manchen Kameraden ins Unglück gebracht. Wenn es seinen Vorteil galt, war er rücksichtslos und unbarmherzig. Der Gattin des Ritters von Tollenstein diente damals ei» überaus schönes Mädchen als Kammerzofe. Hildegard war der Name dieser Jungfrau. Ihre Gestalt war schlank ivie die eines Rehes. Die blauen Augen schauten gar unschuldig und treu aus ihrem hübschen Antlitz. Hildegard stand bei ihrer Herrin in großer Gunst. Auf dieses Mädchen richtete der Knappe Kuaut seine frechen Blicke. „Mein muß sie sein," schwor er. Wo er nur konnte, suchte er ihr zu nahen. Hildegard konnte den wilden Knappen mit seinen lüsternen Augen nicht leiden und wies ihn ab. Um so ausdringlicher wurde Knaut. Als er merkte, daß er dis Gunst der Jungfrau niemals erringen könnte, versuchte er, sich ihrer mit List und Gewalt zu nahen. Allein Hildegard war aus der Hut, und der wilde Geselle mußte seine frechen Begierden zügeln. Nun schwor er ihr furchtbare Rache. Er ersann einen teuflischen Plan. Als die Herrin einst ausgeritten war, schlich sich der Knappe in die Kemenate der Burgfrau und stahl ihr den kost barsten Halsschmuck, Dann trug er ihn in die Kammer der Zofe und verbarg ihn dort. Es währte nicht lange, vermißte die Frau des Ritters ihren Schmuck. Im Burghofe herrschte gewaltige Aufregung über den Diebstahl. Sämtliche Dienstleute wurden einem strengen Verhör unterzogen und jeder Winkel ausgesucht. Nur bei Hildegard forschte man nicht nach. Ihre Unschuld war über allen Zweifel erhaben. Knaut wußte das. Da sich der Schmuck nicht wiederfand, ergrimmte der Ritter immer mehr und schwor dem Diebe blutigen Tod. Knaut, der böse Knappe, wußte nun durch Einflüsterungen beim Burgherrn die schöne Zofe zu verdächtigen und gab nicht eher Ruhe, als bis auch Hildegard einem Verhöre unterzogen wurde. Sie beteuerte unter einem Eide ihre Unschuld. Ihr Feind aber ließ nicht locker, bis auch in ihrer Kemenate nach dem Schmucke gesucht werde. Hildegard beteiligte sich selbst eifrig daran. Und nun geschah das Entsetzliche. In ihrer Kammer wurde die Halskette gefunden, der Knappe selbst hatte sie aufgestöbert. Hildegard erbleichte, als Knaut den Schmuck hervorzog. Sie ahnte, wer ihr diesen Streich gespielt. Die Stimme versagte ihr. Ihre Herrin wandte sich ent rüstet von ihr ab. Hatte sie doch Hildegard aufrichtig getraut und sic stets freundlich behandelt. Und gerade sie war die scham lose Diebin. Die Burgfrau äußerte laut ihren Unmut darüber und konnte nicht begreifen, wie ihre Zofe, deren Augen so treu und ehrlich blickten, eine solch schändliche Tat begehen konnte. Die arme Hildegard war mehr tot als lebendig, als sie von rohen Knappen ins Gesängnis geführt wurde. Kein Wort der Verteidigung brachte sie über ihre Lippen. Knaut aber lachte