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um die heiligsten Güter, die man den Kindern rauben wollte, ihr sichtlich anspürend, hatte sie nur die Worte heroorgebracht: „Ich bitte Euch, ich beschwöre Euch, ihr Eltern, versündigt Euch nicht an Euren Kindern. Laßt ihnen das Heiligste, den Religionsunterricht, nicht rauben! Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Ihr in den Stürmen des Lebens — und hier war ihr vor innerer Bewegung die Stimme gebrochen — ohne einen persönlichen Gott und lebendigen Heiland sertig werden wollt!" Und still wars darauf in der Versammlung geworden — kein Laut — keine Zwischenrufe wurden hör bar — irgend etwas Großes, Geheimnisvolles lag mit einem Male über der ganzenVelsainmlung, irgendein weilieoollcs Etwas, das auch die erbittertsten Gegner spürten, etwas, das nichts mit „Dogmenzwang und Nötigung zum Ein prägen und Aussagen jremder Katechiswusstücke" zu tun harte, Dinge, von denen sich ihre Schulweisheit nichts hatte träumen lassen. Ihre sämtlichen Kollegen lehnten die Ertei lung des Religionsunterrichts ab, sie mochte und konnte ihn nicht missen, es war ihr die liebste Stunde aus dem ganzen Lehrplan gewesen und die Weihe sür den ganzen Lag. Und zu den äußeren Schul- und Parrelkämpien kam noch ein großer innerer Kampf. Sie sollte ihren geliebten Lehrerinnen- beruf ganz aufgeben, noch heute sollte sie sich entscheiden. Ihr wurde Großes geboten, eine ganz glänzende, sorgenfreie Zukunft, auch fürs Älter, doch so ganz anders, als ihr bis heriges Leben war, ein süßes Nichtstun, Hintändetn des Tags im lauten, gotlfernen Getriebe der Welt, sie wußte gewiß, daß der Friede, den ihre Seele brauchte, dort nicht wohnte, sie wußte nicht den rechten Weg zu finden, wußte weder aus noch ein. Die ganze Nacht Halle sie durchwacht und mit ihrem Gott gerungen: „Rede, Herr, gib mir ein Zeichen, was ich tun soll." Es waren Stunden des verzwei- selten Seelenkampfes gewesen, keinen einzigen Menschen zur Seite, der ihr raten konnte, Gethsemanestunden: Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? Sie hatte den Tages anbruch nicht erwarten können, um zu der alten „Muller- muttern", wie das Mütterchen im Bekanntenkreise genannt wurde, zu eilen und sich Trost und Rat zu holen. Das alte Mütterchen war ihre Meisterin gewesen im Glauben. Wie ost hatte sie zu ihren Füßen gesessen im Avenddämmerscheine, in ihrem engen, monotonen Stübchen, das vergessen und verlassen von der Welt im einsamen Hof der Großstadt zwischen hohen Häusermauern lag. Ihr S»tz- plätzchen war im hohen, bequemen Lehnstuhl am Fenster, eine warme Decke sperrte den kalten Nordwind ab, fröhlich zwitschernd flog ein Kanarienoögelchen frei im Stübchen umher und segle sich zutraulich auf ihre Schulter, ihr den Bissen aus dem Munde nehmend. Immer hatte sie Blumen an ihrem Fenstcrlern stehen, die ihr gute, freundliche Menschen gebracht. Sie wußten ja wohl, wie liebevoll die Hände, als sie noch jung waren, die Blumen gehegt und gepflegt hatten. „Und aus dem Boden ihrer Seele wuchsen lauter Hcmmels- vtumen, ihre Tage verrannen, sie wußte nicht wie. Sie lebte den Frieden Gottes, ihr Leben glich einem einsamen Wald see, den kein Windeshauch und kein Sturm berührte, der träumend in sich selbst ruhte und in den die Stcrnlein Gottes niederschauten und ihn mild verklärten." Lange war sie mit ihrem Manne durchs Leben gewandert, über Höhen und Tiesen, durch Sonnenschein und Welternacht, verbunden in Lieb und Leid, in ernsten und frohen Stunden. Und ihr Heiland war immer bei ihnen gewesen — alle Tage — bis ans Ende! Zu ihren Füßen hallen einst die Kinder gespielt, unter ihren Augen wuchien sie heran, bis sie ihren Weg selber sanden, hinaus in die weite Welt. Da ward ihr Leben wieder still und einsam, und dann war es ganz still geworden — wundersam still in ihrem Altenstübchen, als auch der treue Lebensgefährte heimgegangen war. Aber der Herr hatte an ihr erfüllt, was ER verheißen: „Ich will dich heben und tragen bis ins Aller und bis du grau wirst. Ich will dich heben und tragen und erretten." In den Furchen ihrer. An gesichtes, in dem Edelweiß des Hauptes hatte sich eine reiche Lebenserfahrung abgelagert. Sie machte keine hohen Worte und dennoch wogen sie so schwer, denn hinter jedem ihrer Worte standen ganze Jahre von Lebenserfahrungen, gewon nen unter Kümmernissen und Leiden. Aber ihres Lebens schönste und reichste Erfahrung war doch die von Gottes Güte und gnädiger Durchistlse gewesen. „Gott hat zu allen Zeilen für Sein Reich Menschen gebraucht, die Schwerstes erlitten und üurchgemacht Haven, denn solche Menschen haben der Welt das Beste zu geben — nach Roseggers schönem wahren Wort: „Je mehr der Stahl geglutet, Je besser ist das Schwert, Je mehr ein Herz geblutet, Je größer ist lein Wert." Manches reiche Gotteserlevnis wußte sie zu erzählen, aus welchem sich die junge Lehrerin immer Licht und Kraft für den Tag geholt hatte. Sie war dann selber ihrem Heiland begegnet, nicht nur im Wort, sondern auch in dem alten, lieven Mütterchen selbst, in ihrer lebendigen christlichen Per sönlichkeit. Es war immer „Himmelsluft" gewesen, die sie bei der lieben Alten geschmeckt, ein Stück aus einer anderen höheren Welt, das „Rauschen der Ewigkeit" hatte sie ver nommen in dem engen Altenstllbchen und dann mit hinaus genommen in die Kämpje und Stürme des Alltags. Stille, gottgeweihte Feierstundchen, wenn das Mütterchen aus ihrer Jugendzeit erzählte; wie hatten dann die alten gütigen treuen Augen ausgeslraylt in sonnigem Glanz! Das liebste Erleb nis, das sie nicht müde wuroe.immer und immer wilder zu erzählen, war dies, wo sie in Pastor Rollers Bibelstunden gegangen und am Tage seines Aufgebotes (dem damals 66- jährigen), als er die Katechismusstunde mit den Jungfrauen vor dem Altar beendet hatte, mit noch einer Jungfrau hervor getreten war und ihm einen Kranz von blauen Astern über reicht, während alle das Brautlied, das er selbst gedichtet Halle, anstimmten. Mancher Jungfrau, welche als Braut zum letzten Male der sonntäglichen Katechismusprüsung beige wohnt, hatte er mit ihren Genossinnen ein Lied gesungen und dabet einmal geäußert, ob wohl auch ihm, wenn er würde verlobt sein, ein Vers würde gesungen werden. Und nun, da es doch geschehen, hatte es ihn zu Tränen gerührt. Ja, ihr altes, treues Herz war noch frisch geblieben. Das Gedächtnis war geschwunden, aber das, was einst das junge Herz ersaßt hatte, war in unauslöschlichen Farben eingeprägt geblieben. Eine unerklärliche Ungeduld und Sehnsucht nach dem alten lieben Mütterlein, nach dem treuen lieben Gesicht, nach ihrem Segen, ihrer Fürbitte überkommt sie. Eilig macht sie sich aus den Weg und schreitet rüstig aus, den kleinen Berg schon hinter sich habend, und biegt nun in die dunkle Gasse, wo das Mütterchen wohnt, ein. Schnell steigt sie die vier Stiegen zu ihrem Hinterstübchen empor, und schon sieht sie das alte liebe Gesicht am Fenster. Doch scheint sie wieder eingeschlummert zu sein der Kops ist tief gesenkt, die Hände über der aufgeschlagencn Bibel gefaltet.Wahrschein lich ist sie über dem Lesen des Moigensegens wieder ein geschlafen. Da auf das Klopfen und Klingeln niemand hört — die Pflegerin, die sie sonst immer um sich hat, scheint fort-