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Plackereien an der Landesgrenze Bon F. R. Schirgiswalde Der Bewohner des Innenlandes hat zumeist gar keine Ahnung, was für Arger und Scherereien die Leute an der sächsisch.böhmischen Landesgrenzr während des Krieges und zum Teil noch jetzt zu ertragen hatten. In Friedenszeiten gewohnt, Ahne weiteres hinüber ins böhmische Nachbarland zu wandern, so ost sie Lust hatten, wurde den Anwohnern der Grenze kurz nach Kriegsausbruch der Übergang jenseits der weiß grünen Pfähle plötzlich zur Unmöglichkeit. Der mit den Grenzvertzältnissen nicht Vertraute wird nun entgegnen: Was tuts? Dann bleibt ihr eben im Lande. So einfach liegt indes die Sache nicht. Durch tausend Fäden ist der Grenzbewohner mit dem Nachbar lande verbünd»n. Biele gingen ins Böhmische auf Arbeit und umgekehrt. Handweiker und Geschäftsleute waren oft zum großen Teil auf böhmische Kundschaft angewiesen. Fabrikanten besaßen drüben Fabriken und Filialen. Alle Schichte» der Be völkerung aber hatten Leute unter sich, die durch familiäre und freundschaftliche Bande mir den böhmischen Nachbar» eng ver knüpft waren. Und nun hieß es aus einmal: Das Überschreiten der Grenze ist verboten! Wäre Böhmen Feindesland gewesen, so würde diese Maßregel ohne weiteres verstanden worden sein. Run galt Böhmen aber als unser Bundesgenosse. Weshalb Also die Absperrung der Grenze? Der Spionage wegen? Daran glaubie der Grenzbewohner nicht. Was sollte er auch verraten können? Er sah und hörte ja von dem Kriegsrummel so gut wie nichts, zumal hier in der Lausitz. Truppentransporte kamen an der Grenze — vielleicht die Elbgegend ausgenommen — nicht durch. Freilich war das Begehen der Nebenwege streng untersagt. Der Bewohner der Grenze aber sagte sehr richtig: „Wenn ich will, komme ich doch hinüber." Und die Dreisten haben das auch getan. Der weitaus größte Teil der Bevölke- rung aber gehorchte und sand sich damit ab, daß nach Süden zu iür ihn die Welt mit Brettern verschlagen war. So mancher, der gewohnt war, täglich drüben seinen Schoppen zu trinken, sah sich jahrelang von seiner Stammtischrunde getrennt. Ver wandte, die nur ein oder zwei Stunden weit von einander wohnten, konnten sich nicht mehr sprechen und sehen, obgleich in dieser notigen Zeit ein gegenseitiger Besuch erwünschter gewesen wäre als sonst. Dem Sohne oder der Tochter war es verwehrt, zur sterbenden Mutter ans Krankenlager zu eilen oder sie wenigstens zum letzten Gange zu begleiten. Es blieb dem Onkel, der Tante, der Großmutter versagt, dem Neffen oder Enkel die Hand noch einmal zu drücken, bevor er hinaus» zog ins Feld. Ich kann mich noch gut eines Falles entsinnen, wo die Mutter vergeblich an dem Greuziibergangc stand, um der Tochter in schwerer Stunde beizustehen. Der Grenzposten ließ sie nicht durch, obgleich das Haus, in das sie gehen wollte, nur hundert Schritte weit entfernt lag. S"lbst Soldaten, die «us dem Felde kamen, stießen an unsrer Grenze aus Widerstand. Sie konnten nicht hinüber. Ein Beispiel wöge das beweisen. Bin ich da eines Tages — als glücklicher Inhaber eines Er laubnisscheines — in einem böhmischen Gasthause cingekehrt. Der Besitzer dieser Gaststätte, die keine hundert Schritt vom Grenzstein steht, diente im deutschen Heere, denn er war sächsischer Siaatsanpehörig r. Mutter und ihre 3 Kinder sind in fröhlichster Stimmung, trotzdem infolge der Grenzabfperrung das Geschäft zum Auslöschen ist. Ans meine verwunderte Frage, weshalb solche Fröhlichkeit bei ihren herrsche, antwortet mir die Mutter: „Heute kommt unser Battr heim aus Urlaub. Er steht in Ruß- jand.'' „Beim Hindenburg ist er," ergänzt das größere Mädel voll Stolz. Als die Uhr auf 6 zeigte, rüstet sich die Familie, dem Vater entgegen zu gehen. „Ihr holt ihn wohl vom Bahnhof ab?" fragte ich. „Ach nein," svrtcht die Mutter. „Wir dürsen nicht hinüber ins Sächsische. Nur bis ans Zollamt gehen wir. Bleiben sie uur derweil allein hier." Das tat ich gern. Denn ich kannte den Wirt und wollte ihn als Krieger begrüßen. Nach etwa einer Stunde kam die ganze Familie verweint wieder. „Was ist denn los?" fragte ich bestürzt. Und nun erzählt die Mutter, daß die Grenzposten ihren Mann, obwohl in Uniform und Tornister, nicht herüber ge» lassen haben. Sein Urlaubsschein habe nur auf den sächsische» Ort gelautet. Der Wachthabende, an den sich der Vater ge wendet, habe entschieden, daß er ihn nicht über die Grenze lassen dürfe. Er habe den Vater zum Kompaniechef geschickt. Der aber wohne im nächsten Städtchen. — Ich b'n dann gegangen, kopfschüttelnd und oerbost. Zwei Tage später kehre ich wieder in der „Tanne" ein. Der Wirt ist nun freilich da. Er berichtet mir über die Plackerei, die er gehabt hat. Der Kompaniechef habe ihm auf seine Bitte be deutet, er könne nichts machen, sondern müsse sich telegraphisch an sein Kommando in Polen wenden und Bewilligung zum Urlaudsaufenthalt in seinem böhmischen Orie einholen. Das habe er getan. Gestern sei die Antwort eingrtroffen. Die vorige Nacht aber habe er im sächsischen Gasthofe an der Grenze zu bringen müssen und seine Familie bis dahin nur am Zollamt sprechen dürfen. Um den Grenzbewohnern in dringenden Fällen den über» gang ins Nachbarland zu ermöglichen, wurden Grenzausweise ausgestellt. Leute, dis irgend eine Besorgung drüben zu er- ledigen hatten, mußten sich zur Ortsbehökde begeben und hier die Ausstellung eines Ausweises beantragen. Da derselbe mit einer Photographie versehen sein mußte, bekamen die Photo graphen auf einmal viel Arbeit. Iigend ein Grund wurde angegeben, und nachdem der Bürgermeister oder Gemeindeoorstand den Schein genau ausgefüllt und dis ihm bekannte Person als politisch unverdächtig mit seiner Unterschrift und dem Amts- siegel beglaubigt hatte, begab sich der Inhaber zum Kompanie chef, um dessen Erlaubnis zu erbitten, ihm wöchentlich ein- oder zweimal den Übergang ins Nachbarland zu gestatten. Diese Bewilligung war im Anfänge nicht leicht zu erlangen. War man endlich im Besitze dieses kostbaren Papieres, so konnte man den Weg ins Böhmerland versuchen. 3e nachdem der Posten sein Amt streng oder weniger streng verwaltete, durfte man jenseits der schwarz-gelben Pfähle. Oft genug habe ich müssen meine Taschen umdrehen, das Geldtäschchen ausleeren und eine Reihe hochnotpeinlicher Fragen beantworten. Eines Tages erhielt ich einen Bries aus Böhmen. Der Friedhofsmcister des Dorfes, wo meines Balers Grab sich befindet, teilte mir mit, ich möchte mich doch um die Grabstelle kümmern, die einer Erneuerung dringend bedürflig sei. Da ich einen Ausweis hatte, begab ich mich aus den Weg. Drei Stunden hatte ich zu lausen. Mit der Bahn zu fahren, konnte ich nicht wagen, denn durch die Zollbahnhöfe kam man mit einem Grenzausweise erst recht nicht durch. Dazu bedurfte es eines Paffes. Kaum war ich eine halbe Stunde unterwegs, überraschte wich ein Gewitter. Der Regen ließ nicht nach. Ich mußte also ohne Sckirm und Mantel lause» und war bald bis auf die Haut durchnäßt. Das war jretiich meine Schuld. Warum sah ich mich nicht vor. Umkehren konnte ich nicht, denn ick durfte nur aller 14 Tage einmal über die Grenze und später hatte ich keine Zeit. Als ich meine Besorgung auf dem Friedhof erledigt hatte und es noch immer regnete, auch keine Aussicht vorhanden war, daß das Wetter sich b-ffern würde, beschloß ich, den vom böhmischen Dorfe um 4 Uhr bis an die sächsische Grenze fahrenden Zug der österreichischen Nordbohn zu benutzen. Bon dort hatte ich eine halbe Stunde, beim sächsischen Zollamt vorüber, bis zur sächsischen Bahn und konnte so aus einem Umwege, aber trocken, nach Hause ge langen. Erst unterwegs im Zuge fiel mir ein: Beim Zollamt in S. steht aber ein Posten einer anderen Grenzkompanie! Ob du wohl durchkommst? Ich zeige meinen Ausweis. Der biedere Landstürmer betrachtet ihn und gibt ihn zurück mit deu Worten: „Es ist gut, Sie können gehen." Ich wäre dem guten Manne am liebsten um den Hals gefallen. Während ich meinen Ausweis verstaue, sage ich zu ihm: „Ich dachte schon, sie ließen mich nicht hier durch."