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13L Vberiausttzer Heimatzeitung Är. 10 stammesweise sehr verschieden ist. Stämme wie die Pommern, die bis ins eiste Jahrhundert sich ungestört entwickeln konnten, haben eine „höhere" Kulturstufe erreicht als die bedauernswerten Obotriten, deren Gebiet jahraus jahrein von den Sachsen ver heert wurde. Daß diese freundschaftliche Gegenbesuche nicht unter ließen, ist klar, andrerseits hatte aber die Unsicherheit des Lebens bei ihnen die Folge, daß sie ihre Wirtschaft zu einem Teil auf Raub einstellten. Absprechende Urteile hört man auch heute noch über sie. Aber diese sind in ihrer Verallgemeinerung sicher ganz unberechtigt. 1.** Das Familienleben bindet auch heute noch den Slaven eng an das seiner Verwandten, die Familie stellt eine Macht vor, ohne die er nichts unternehmen kann. Er ist in seinen Entschlüssen an deren Zustimmung gebunden (Wallace, Rußland). Wenig wird aus alten Zeiten davon berichtet, dafür aber um so mehr sonder bare Sitten und Bräuche aus dem Leben des Individuums. Es gab die Sitte der Geburtenbeschränkung, neugeborene Mädchen wurden oft erdrosselt (Pommeranen, Liutizen um 1100). Dies mag seinen Grund in wirtschaftlichen Verhältnissen gehabt haben. — Die Namensgebung des Kindes ist noch ganz den Geburtsumständen angepaßt, z.B. wurde während eines Gast mahles ein Mann heimtückisch ermordet, zur selben Stunde aber ward ihm ein Sohn geboren, der den Namen „Ztrachquaz", schreckliches Mahl, erhielt (Böhmen). Im heiratsfähigen Alter ist es den Mädchen entgegen den Sitten anderer, auch germa nischer Völker gestaltet, über die Annahme einer Werbung zu ent scheiden. An den Vater des Mädchens wird ein Kaufpreis gezahlt, den bei der Verheiratung eines polnischen Kriegers z.B. um 1000 der Herzog auszahlte. Nach einer sehr kurzen Brautzeit wird das Mädchen unter den Wehklagen der Verwandten abgeholt. Ein prächtiges Gefolge schickt ihr der Bräutigam, das sie in seinen Wohnsitz geleitet (Böhmen, Mähren). Ganz eigenartig aber mutet es uns heute an, daß — wie es mehrere Stellen bezeugen — in einigen Gegenden die Jungfräulichkeit der Braut ein Grund sei, die junge Frau wieder heimzuschicken. In der Ehe jedoch lebten die Frauen keusch. Es herrscht ganz allgemein Polygamie, ja die Fürsten haben einen förmlichen Harem (Böhmen 1000, Pom mern 1100). Von dem Slavenfürsten Samo wird uns für die Zeit um 650 bezeugt, er habe zwölf „wendische" Frauen gehabt, die ihm 22 Söhne und 25 Töchter schenkten. Jedoch wird dies nicht auf alle Volksschichten anzuwenden sein, Polygamie ist stets eine sehr durch Wohlstand oder Armut geregelte Eheform. — Wer seine Frau verläßt, verfällt in Knechtschaft oder wird verbannt, dasselbe Los traf aber auch die durchgegangene Ehefrau. Kranke und alte Leute werden ihren Erbe» zur Pflege überwiesen (Ranen auf Rügen). Gastfreundschaft ist ein ganz allgemein in der frü heren und heutigen Slavenwelt heroortretenderCharakterzug.— Während durch den Einfluß des Christentums allmählich die Sitte der Bestattung der Leichen auskam, verbrannte man in heid nischer Zeit seine Toten. In Wäldern und auf Feldern wurden Erdhügel errichtet, unter denen die Asche der Toten geborgen ward. Auf den Hügeln aber pflanzte man Holzfäulen ein, welche den Namen des Toten der Nachwelt überliefern sollten (Pommeranen und Liutizen 1100, Böhmen 1090). Große Festlichkeiten wurden am Grabe und aufKreuzwegen zu Ehren und zur Ruhe der Toten abgehalten. Dies geschah selbst in christlicher Zeit noch. Die Lieb lingsfrau, eine Magd oder ein Freund folgten dem Toten im Tode nach. Sie gaben ihm das Geleit und sollten ihm in der andern Welt dienen (Polen 1000). Als Zeichen der Trauer zer kratzten sich die Frauen Gesicht und Hände oder brachten sich Messerschnitte bei. Doch genug davon! **) Es kann nicht dringend genug davor gewarnt werden, nach stehende Einzelangaben zu verallgemeinern, außer wo dies ausdrück lich bemerkt ist. Leider haben die alten Schriftsteller in vielen Fällen diesen Fehler selbst begangen und statt Stammesnamen oberflächlich hingeschrieben „bei den Slaven". Richtig ist es z B. zu sagen, nicht die Slaven sondern die Pommern hatten um 1100 die Sitte der Beschränkung weiblicher Geburten. — Die Angaben sind sämtlich dem Riesenwerk der ,Monuments Qormaniso tnstorica" ent nommen, arabische Quellen in den Ausgaben von de Goje und Marquart, byzantinische in den neuesten Ausgaben heranqezogen. 2. Die Familien waren in späteren Zeiten zwischen 1000 und 1100 bei einigen Stämmen zu Sippen oder Geschlechtern angewachsen. Eins der berüchtigsten war in Böhmen das der Wrisovici. Aber auch von den Pommeranen wird ähnliches be richtet, hier gab die Anzahl der berittenen Pferde den Ausschlag über das Ansehen eines Geschlechts. Besondere Ehre wurde den Angehörigen großer Sippen gezollt. — Eine straffe Berufs- oder Kastengliederung gab es nicht, wohl treten Vornehme und Ge ringe, Freie und Unfreie auf. Nur Adelsgeschlechter finden sich gleichmäßig bei allen Stämmen. I» Polen allein gab es einen berufsmäßigen Kriegerstand, dessen Angehörige Unterhalt, Klei dung, Pferde und Waffen vom Herzog erhielten. Auch eine ganz modern anmutende Kinderzulage gab es damals schon bei ihnen. Besonders hervorgehoben zu werden verdient, daß es bei Pomme ranen und Ranen keine Bettler gab. Dies liegt gleichfalls in der Wirtschaft begründet. Die Erhebung eines Leibeigenen in einen freien oder edlen Stand wird mehrfach berichtet. Ein regelrechter Sklavenhandel war bis um 1000 vorhanden, lag aber meist in den Händen der Juden. — Auch für unsere Gegenden ist eine Gliederung des Volkes bezeugt, die Wethenici, Withasen waren berittene Krieger, welche in Nutznießung eines Gütchens lebten (Witchas^- Lehmann). 3. Die politische Verfassung ist in den einzelnen Zeiten und bei den Stämmen verschieden. Um 545 wird uns berichtet, daß die Sclavenen und Anten nicht unter der Herrschaft eines ein zelnen Mannes gestanden hätten, sondern Volksstaaten bildeten. Noch um 980 wird von den Welataben gesagt, daß sie nicht von einem Könige, sondern von einem Landesültesten regiert würden. In Kriegszeiten wurde jedoch das Volk unter Heerkönigen zusam- mengefatzt, die es selbst wählte. Ost waren sie sogar stammes- fremd (Samo, Kizzo, dänische Fürsten). Ein solcher wird auch „Dervanus, Herzog der Surbier" um 680 zunächst gewesen sein. Erst im zehnten Jahrhundert werden allgemein Stammesherzöge erwähnt, öfters regieren mehrere nebeneinander (990 Missizla, Naccon und Sederich, Fürsten der Obotriten). Ein Königtum wird zuerst bei den Ranen erwähnt, hier ist es aber mit der obersten heidnischen Priestergewalt verquickt, löst sich aber später davon. Wie es so zu gehen pflegt, benutzten reiche und angesehene Her zöge (Häuptlinge) ihren Einfluß, um sich und ihre Familie über das Volk dauernd zu erheben. Das Herzogtum wurde erblich und entwickelte sich zu einem Kleinkönigtum. Aus der Lausitz ist der artiges nicht bezeugt. *** Beamte in unserem Sinne gab es nicht. Die Starosten und Supane waren gewissermaßen mit Provision von dreiunddreißig Prozent (!) an den Einkünften des Herzogs beteiligt, die sie ein- zutreiben hatten. Eine Erinnerung daran hat sich bis heutigen Tags in Lauban erhalten. Dort zeigte man mir noch das Haus, in dem der „Zupanz" gewohnt habe, natürlich ist es nicht mehr dasselbe, sondern nur die Stelle ist noch bekannt. Als Beamte sind auch die Befehlshaber der „Städte" aufzufassen (Pomme ranen 1100). Jedoch in Böhmen sind um 1000 die Städte und Landschaften durch die Geschlechter gewissermaßen in Regierungs bezirke eingeteilt. Steuererhebung fand statt in Form von Grund steuer, dann gab es aber auch willkürliche Abgaben auf den Kops oder auf den Rauchfang (Polen). Die Steuersumme wurde in Marderfellen oder in Kleidungsstücken bezahlt (850). Dann war aber auch eine Abgabe von Kriegsbeute-Anteilen an den Staatsschatz üblich (Ranen) oder der Herzog bestritt seinen Unter halt aus den Einkünften von Domänen (Pommeranen). —Einen ständigen Ministerrat gab es jedoch nicht, die Angesehenen beraten ***) Allzu erhaben dürfen mir uns aber die Herzöge nicht vor stellen! Um 1100 erhält einer der pommeranischen von einem Missio nar einen elfenbeinernen Krückstock geschenkt. Sofort stolziert er damit vor seinen staunenden Kriegern auf und ab. Genau jo tut es der Negerhäuptling mit dem Zylinder, genau so bindet er sich den euro päischen Schlips um den nackten Hals, genau so eigings auch den Germancnhäuptlingcn, als römische Heerführer nach Deutschland kamen. Auch die Völker haben ihre Kindheitspcrioden und entwickeln sich wie ein Einzelmensch — Übrigens tsls möglich, durch mehrere Jahrhunderte hindurch Genealogien von Slavensiiisten sestzustellen, aber nur im heutigen Mecklenburg und Pommern.