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950 8. Vom Wiener Coiigreß bis zur Julircvolution. raffinirte Sophistik und Selbstsucht. Ihre Erfindungsgabe ist nicht stark; ihre Charaktere zeigen oft verwandte Typen. — Aurore Dupin, wie George Sand mit ihrem Geburtsnamen hieß, war in zerrütteten häuslichen Verhältnissen ausge wachsen. Ihr Vater, ein natürlicher Sohn des Marschalls von Sachsen, ein leichtfertiger Offizier; ihre Mutter eine Frau von leidenschaftlichem Tempera ment und sinnlichen Neigungen; ihre Großmutter eine heftige aristokratische Dame des Voltaire'schen Zeitalters. Wie konnte da Eintracht und Liebe ent stehen ! Sie wurde im Kloster erzogen und in ihrem achtzehnten Jahr ohne alle Neigung an den Herrn Dudevant vcrheirathet, dem sie zwei Kinder gebar. Ihre wcchselvollen Lebensschicksalc, ihre Jugendjahre, ihre Umgebung und ihren Bil dungsgang, so wie ihr Urthcil über viele bedeutende Personen der künstlerischen, literarischen und politischen Welt, mit denen sie in Berührung kam, hat sie selbst in ausführlichen Memoiren in reizender Darstellung der Welt kundgethan. Ueber- drüssig dieses ehelichen Verhältnisses ohne Sympathie, verließ sie ihren Gatten und begab sich arm und hülflos nach Paris (1831), wo sie in Gemeinschaft mit ihrem Freunde Jules Sandcau sich mit literarischen Arbeiten befaßte, nachdem sie in Männerklcidung das Pariser Leben beobachtet. Solche Lebenserfahrungen machen cs erklärlich, daß ihre meisten Romane, besonders die der ersten Zeit, vorzugsweise zerrüttete häusliche Verhältnisse, herbcigeführt durch unglückliche Ehebündnisse und anderweitige Liebcsverflcchtungen, zum Gegenstand haben, mit sichtbaren Beziehungen auf die eigenen Erlebnisse und Eindrücke im Elternhaus. Die Fessel der Ehe erscheint überall als Tyrannei. So wird gleich in ihrem ersten Roman »1Io8s et UlanoUe« der Contrast des Klosterlebens und der Wirklichkeit gezeichnet; so ist »Indiana« eine Ehestands- und Liebesgeschichte, die theils in Paris, theils auf der Insel Bourbon sich abspielt, ein unter dem Druck der bittersten Sorgen verfaßtes Buch, welches trotz der Unnatur und Verschrobenheit der Handlungen und Motive die größte Sensation erregte, in welchem „alle Leidenschaften und Zerwürfnisse, alle Schmerzen und Lonflikte, alles Elend und alles Sehnen, Alles, was die moderne Gesellschaft bewegt, zu einem Gemälde vereinigt sind, das mit den einfachsten Mitteln die höchste Wir kung erreicht, in der Wahrheit bis zum Schrecken ergreifend, in seiner Form vollendet ist". „Jacques" ist ein moderner Held der Liebe, der er selbst die Ehre opfert; in „Leon Leoni" erreicht die Sophistik der Liebe ihren Gipfel; die Geliebte bleibt dem schönen Cavalier treu, auch wenn er als ehrloser Schurke sich zeigt und wird aus Liebe Mitschuldige seiner Schandthaten; in „Andrer" wird der Kon flikt weicher ideal angelegter aber schwacher Naturen mit der Wirklichkeit poetisch durchgeführt. Auch „Valentine" ist eine Ehestands- und Liebesgeschichte, worin die Bildung und Anschauungsweise der verschiedenen Stände in dem Frankreich der Restauration mit großer Naturlreue geschildert sind; in „Lelia" sind paradoxe Lebensansichten und Doctrinen dem Helden eines Romans in den Mund gelegt.