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948 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julircvolution. noch der Willkür seiner Phantasie die Meisterwerke von zwanzig Ländern und zwanzig Epochen auf einander häufte, war doch sein weichlicher, entnervender, kitzelnder Stil, kurz diese ganze auflösendc, i»i innersten Kern sinnliche und corrumpirende Literatur so recht nach dein Geschmack jener ungebildeten und überbildcten Gesellschaften. Balzac war zuerst juristischer Beamter, dann Buch händler. Als es mit seinem Geschäfte nicht recht voranging und seine Spekula tionen fehlschlugen, widmete er sich der Schriftstellerei. Er besaß großes Selbst gefühl. wollte von adliger Abkunft sein und hielt sich für den Propheten des Jahrhunderts. In seinen Romanen beabsichtigte er nicht blos ein Totalbild der Gesellschaft zu geben, sondern auch eine Philosophie des Lebens. Wenn er dieser Ausgabe auch in sehr ungenügendem Maße entspricht, so ist doch nicht zu ver kennen. daß seine Schilderungen von Beobachtungssinn, Darstellungsgabe und tiefer Menschcnkcnntniß Zeugniß oblegen. In dem Roman „die letzten Chouans" wird die Hinneigung des Verfassers zum Pessimismus unter Humor und Ironie versteckt; in der «I'Irz-sioloAis äu mniiaAs« werden die nicht sehr züchtigen Bilder in anmuthige und unterhaltende Form gekleidet, wogegen man in den »sontss ärolntiexuss« an den Cynismus Rabelais' erinnert wird. »T,a penn, äs s1m»rin« gibt in einer Reihe phantastischer Erzählungen und Reflexionen dem Grundge danken Ausdruck, „der Geist, die Begierde, der Wille, zehrt den Menschen aus, das Leben tödtct das Leben". Um dafür den Beweis zu liefern, werden in einer Reihe von Romanen einzelne Triebe, Leidenschaften und extravagante Seelcii- kräfte als Ursache des Untergangs und Verderbens ihrer Träger dargcstcllt. So in »l'llistoirs intsllsstnells äslhonis 4,srnl>srt« dieSpeculationssucht eines materialistischen Philosophen, in „Scraphitus" die supranaturalistische Mystik mit Swc- dcnborg'schcn Visionen; im »msäesin äs campsAns« wird eine Analyse der Krank heiten an einzelnen Personen gegeben. »Ua reellsrests äs l'^dsolu«, ein Meisterwerk niederländischer Genremalerei und zugleich der feinsten Beobachtungen der Seelcnbewc- gungcn, zeigt in dem unglücklichen Lebensgang eines Fanatikers der Alchymie. der den Stein der Weisen sucht, die Wirkungen wissenschaftlicher Verirrung. Zn dem trefflich durchgcführtcn Roman »Ln^snis Vranäst« bildet der Geiz den Dämon des unbehag lichen Kleinlcbens ohne Sonnenschein. So wohlthuend Balzac's Bilder aus der Pro vinz (»ssdnss äs Is vre äs provines«; »ssenss äs In vis äs eainpsAire« u. a.) wirken, so widerwärtig sind die »Lcdnss äs la vis karioisnire«, eine Welt von raffi- nirten Verbrechern, Wüstlingen, Gefallenen, meistens aus den aristokratischen Kreisen. Selbst in »I-s Uys äans Is. valläs«, einer literarischen Filigranarbeit, wo die Eigen schaften des Körpers und der Seele wie mit dem Mikroskrop betrachtet werden, liegt eine unsittliche Lüsternheit verborgen. »I-ss äeux Fennes marises« sind eine breitere und romantische Ausführung der »Uh^siologis än inaris^s« mit vielen häßlichen Zügen. „Balzac ist ein Maler vom ersten Rang", urthcilt Julian Schmidt, „aber ein falscher und gefährlicher Moralist. Wo er sich damit begnügt, die Natur zu copiren, ist er allen seinen Nebenbuhlern überlegen; wo er sich aber auf die Metaphysik oder auf die Mystik verlegt, ist er unerträglich. Bei seiner seltenen Gabe, den Gestalten ein wirk liches Leben zu verleihen, bei seiner durchdringenden Beobachtung wäre er ein Genie, wenn sein Gesichtskreis ebenso viel Umfang als Schürfe hätte, wenn er mit der Feinheit