II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 947 »l'Iclole« ist eine scharfe Rüge gegen den als Abgott verehrten Kaiser Napoleon; in der »popularite« gießt er seinen Zorn über die entehrende Korruption der Hähern Stände aus. Nachdem er in diesen und andern energischen Satiren, die er unter der altgrichischen jarchilochischcn) Benennung „Jamben" herausgab, die Zustände seines Vaterlandes geschildert, klagt er in seinen spätem Dichtungen »II kianto« und »I-usare« über die Lage des Volks in dem unglücklichen Ita lien und in England, doch mit verminderter Kraft. Cs sind Nachtstücke von dunkeim einförmigen Colorit und manchen widerwärtigen Bildern, worin die Realitäten des Lebens mit ergreifendein Pathos bis in die kleinsten Züge dar- gestcllt werden. Der literarische Liberalismus, wie er sich in den Satiren P. L. Conrier's S°aale^ und in de» populären Liedern Beranger's kundgab, theilte mit dem politischen den Mangel der Produktivität; mehr widersprechend und verneinend als erzeu gend , konnte er den geistigen Bedürfnissen des Volkes nicht auf die Länge ge nügen, er war nur ein in die träge Masse des Romanticismus hineingeworfenes Ferment, das aber selbst keine gesunde und kräftige Nahrung gewährte. Aus einer Verbindung beider Kunstrichtungen, jedoch mit vorherrschend negirenden, reformirenden oder auflösenden Zielen, ging der sociale Sitten- oder Tendenz- Roman hervor, der das vielgestaltige Familienleben und die gesellschaftlichen Zustände in allen ihren Erscheinungen und Formen zur Unterlage hat und sich an die innersten Lebensfragen und Grundbedingungen der menschlichen Gesell schaft anlehnt. Der erste Schriftsteller, der das Familien- und Gesellschaftsleben der Gegenwart, die Windungen und Geheimnisse des menschlichen Herzens er forschte und in seinen zahlreichen Romanen darstellte, war Honore BalzacU^,^ aus Tours. Das neunzehnte Jahrhundert in seinen socialen Erscheinungen und Richtungen war das eigentliche Fruchtfeld seiner Muse. Im Jahr 1799 ge boren, lebte er mit seinen Kindererinnerungcn und -Andrücken noch unter dein Glanze des ersten Kaiserreichs, war ein Jüngling unter der Restauration und ein Mann mit eben aufstcigendcm Ruhm unter dem Bürgcrkönigthum. So hat er diese drei Epochen, welche in Frankreich die erste Hälfte des Jahrhunderts be zeichnen und eine so verschiedene Physiognomie darbieten, gekannt und durchlebt, und bis zu einem gewissen Grad sind seine Werke ihr Spiegel. Wer hat z. B. besser als er die Alten und die Schönen des Kaiserreichs gemalt, wer hat feiner die Herzoginnen und Vicomtessen der Restauration angedeutet, jene Frauen von dreißig Jahren, in ihrer gekünstelten Eleganz und Gefallsucht? Wer endlich hat das unter der Juli-Dynastie triumphirende »Aeuro bourgeois« handgreiflicher erfaßt und mit seiner breiten Realität wahrheitsgetreuer dargestcllt? Auch war der Erfolg Balzac's nicht nur in Frankreich sondern in ganz Europa außeror dentlich. Besonders in Italien und unter den slavischen Nationen des Ostens wurde er fast zum Abgott, seine Romane zum maßgebenden Gesetz. Waren doch z. B. seine Schilderungen von reichen und bizarren Ameublements, wo er 60'