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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 945 kam. Ohne Ehrgeiz und van geringen Bedürfnissen. wurde er ebenso wenig durch die lockende Aussicht auf Aemtcr und Ehrenstellcn von seiner Bahn ab- gelcnkt, als er sich durch Strafen und gerichtliche Verfolgungen einschüchtern ließ. Bon der anfänglichen Derbheit seiner Volkslieder brachte ihn Lucian Bonaparte ab durch die Mahnung, über der Kühnheit nie den Geschmack zu verletzen. Seitdem bestrebte er sich, die Lieder der Fröhlichkeit, deren Seele frcigcistige Witze und stechende Schlußrcimc sind, die Früchte seines „vagabundi- schen Geistes" mit der klassischen Eleganz der Sprache zu verbinden. Als er nach der Restauration der Bourbons die Ueberzeugung gewann, daß die Dy nastie unversöhnlich sei gegen die Grundsätze von 1789, die Nation ebenso unversöhnlich gegen die Bourbons, da ergriff er in steigender Kühnheit die Sache des Volks und bekämpfte und verspottete die künstlichen Rcactionsexperiinentc: Er schrieb das Werk der inneren Missionen, „die das Licht auslöschen und die Scheiterhaufen anzünden sollen", dem Teufel zu; er sprach seinen Grimm aus, daß Jupiter die Welt den Zwergen gegeben. Gerichtliche Verfolgungen machten ihn zum Märtyrer, der Kerker verlieh seinen Versen erst die rechte Weihe in den Augen des Volks. Beranger ist der vollkommenste Ausdruck des französischen Nationalcharakters in seiner edlem Erscheinung; heiter, lebensfroh und leichten Sinnes, dabei liebenswürdig, gutartig und beseelt von Liebe zu Freiheit und Vaterland. Dieses letzte Gefühl regte sich um so mächtiger, je mehr er mit de» retrograden Schritten der Bourbons unzufrieden war, und es trieb ihn zu jenen Aeußcrnngen des Zorns und Unmuths, des Spottes und der Satire, der Klage und Rüge, die seine Lieder zu einer furchtbaren Waffe gegen die Restauration und das klerikale Phnrisäcrthum machten. Beranger's Lieder, von Voltaire'- schcr Ironie durchzogen, mit ihren Refrains als Grundton, waren der Mund des Volkes, der Spiegel der öffentlichen Meinung bei allen Erscheinungen des Tages, die Form und der Rahmen für eine bunte Reihe mannichfaltigcr Genrebilder aus allen Lcbcnskrcisen. Ein tapferer Julikämpfcr, schlug er auch unter Louis Philipp die angcbotcnc Stelle aus, um ein unabhängiges, wen» auch armes Dichterlebcn zu führe». Seitdem war seine Muse schweigsamer ge worden. Die außerordentliche Theilnahmc bei seiner Beerdigung gab den Be weis, daß ihm die Volksgunst bis zum letzten Augenblicke treu geblieben. „Beranger's volksthümliche Leier ist reich besaitet", so faßt ein Literarhistoriker der Gegenwart die Stimmungen, Meinungen und Empfindungen zusammen, die in des Dichters Chansons hcrvortrcten: „die epikureische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts (»Is visu äs8 bonnss Asus«), die Freiheitsbcgeistcrung der Revolu tion (»la äeesss«; »Is visux ssrZsnt«), der kriegerische Napoleon - Enthusiasmus («Iss äeux Arsusäiera«; »Ie8 sonvsnlrs äu psuxle«), der liberale Spott auf die versuchte Renovation des ausien reZims (»Is inarguv äs Osrabas«, »Is8 Nis- sionnslrss«; »Kaduslroäonosor«), die warme Theilnahmc an der Befreiung und Beglückung der Volker j»Ia ssinlo ullinnoe äss psuplea«-, »llLton8-nou8 I«), die gesellige Heiterkeit und der Weinschcrz stirm rspuvUgue« u. a. m.), Licbcslust und Weber, Weltgeschichte. XIV. 00