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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 943 Die »Oaillö anx oamslias«, die Ehrenrettung einer solchen Heroine von zwei felhafter Tugend, wurde als Roman und als Drama nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa bewundert. Auf ähnlichem schlüpfrigen Boden, wo die Leichtfertigkeit, die Unsitte, die Wollust und die Sünde das Regiment führen, wo die Ausschweifung und das Laster beschönigt, entschuldigt, ja mit einer ge wissen Glorie umgeben werden, bewegen sich seine meisten Romane und Bühnen stücke , »1e Iloirmii ck'uns leinins«. «in äanas nux psrles«, »Dian« äs I^s«, »is äsmi-moiiäe«, »1s üls imtursl». Ein leichter fließender Stil und Dialog, gewürzt mit Sittcnsprüchcn, witzigen Bemerkungen, pikanten Einfällen erhöhten den Reiz der zweideutigen Verhältnisse, die den verwöhnten blasirtcn Leser- und Zuschauerkreisen vorgeführt werden. Einen talentvollen Dramatiker, der jedoch den gehegten Erwartungen auf die Dauer nicht ganz entsprach, erhielt die klassische Kunstrichtung in dem Dichter Franz Ponsard, dessen „Lucrece" als der Anfang einer neuen Zeit begrüßt ward; aber in seinem Drama „Ulysse" erscheint die „homerische Simplicität" etwas zu stark aufgetragcn, und in den Tragödien „Agnes de Meranie" und „Charlotte Corday" vermochten die rhetorischen Deklamationen den Mangel an poetischem Genie und productiver Phantasie nicht zu verhüllen. Die anfängliche Bewunderung der Ponsard'schcn Dramatik hatte ihre Quelle mehr in der Vor liebe der Franzosen für die alten Gewohnheiten und Formen als in den dichte rischen Eigenschaften der Erneuerer des Klassicismus. Die geschichtlichen Dra men L. Vitet's und die zahlreichen Theaterstücke des fruchtbaren, bühncnge- wandtcn Lustspieldichters Aug. Eug. Scribe, des französischen Kotzebue, sind trotz einzelner Schönheiten bei dem erster», und geschickter Anlage und Technik bei dem letzter», ohne höhern dichterischen Werth. Scribe's Komödien („das Glas Wasser"; das historische Jntriguenstück „Bertrand und Raton" oder die „Kunst der Verschwörungen"; „Kameradcrie" u. a.) sind auf allen Theatern unentbehrliche Bühnenstücke. Die romantische Poesie war nur eine Seite der revolutionären Bestrebun gen. auf dem Gebiete der Literatur das Alte und Herkömmliche eben so zu ver nichten, wie es im Staat und in den socialen Verhältnissen durch die National versammlung geschehen war; eine andere Seite war die Wiederbelebung des hellenischen Kunstsinnes, das ncuerweckte Interesse für altgriechische Literatur, Geschmack und Bildung. Beide Richtungen hatten anfangs dasselbe Ziel: Vernichtung der den Römern nachgebildetcn einförmigen Klassicität durch Er weiterung des Inhalts und durch Veredelung und Vervielfältigung der Formen. Wie daher die Ncu-Romnntiker auf das mittelalterliche Frankreich zurückgingen, so der neue Hellenismus auf die südfranzösischc Urzeit, als von Marseille aus griechische Bildung in der Provence und in Languedoc herrschend war; und wie jene die christlichen Volksballaden erneuten, so führte der neuerweckte Sinn für das Griechcnthum auf tiefere Studien und Forschungen über die Sprachidiome Ponsard 1814-87. Scribe 17S1—1881. Hellenismus.