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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 933 sarkastisch, finster wirkend, welches die Hauptpersonen ins Verderben hinabzieht, und dieses Hinabzichen geschieht meist in kindischer Weise durch diverse Maschi nerie, Geheimtreppen, Fallthüren u. dcrgl., während man die echte Schicksals idee, die ethische Nothwcndigkeit, vermißt". - Ueber der Rohheit und de» Con- vulsioucn solcher Gladiatorspiele verliert das Volk zuletzt alle Empfindung für Schönheit und Wahrheit. Den Mangel einer ticfern inneren Welt sucht dann Victor Hugo durch die Malerei der Außeudinge, besonders durch die Anwendung von Contrasten, zu ersetzen und gcräth dadurch ins Widerwärtige, Exccntrischc und Abstoßende. Nur wo der Dichter lyrisch wird, erkennt man sein reiches Talent. Die bekanntesten unter seinen Dramen sind „Crouiwell"; „Hcruani", ein Caricaturbild castilischer Ehre; „Triboulet" oder „der König amn- sirt sich", >vo die reinste Vaterliebe in der entwürdigten Seele eines bos haften und grotesk häßlichen Hofnarren des Königs Franz I. geschildert wird; „Lucrece Borgia"; „Marion Delorme", eine Courtisanenliebe; „Maria Tudor", ein Schauerstück voll unnatürlicher Leidenschaft, u. A.; sein letztes <^tück „die Burggrafen", ein Loyalitätsbild aus der Feudalzeit, ist das verkehrteste und mißlungenste unter allen seinen Dramen. Dasselbe Haschen nach dem Ge zwungenen, Ungewöhnlichen, Effektvollen, selbst Unnatürlichen gibt sich auch in Victor Hugo's Romanen kund. War es überhaupt ein charakteristischer Zug der romantischen Schule, daß sie es liebte, sich mit genialem Uebermuth über alles Corrcctc und Regelrechte wegzusctzen, im Widerstreit gegen alles Herkömm liche und Gesetzmäßige als philisterhaften Zwang sich in das Ungewöhnliche, Wilde, Phantastische zu stürzen; so hat sich Niemand in dieser genialen Freiheit weiter verstiegen als Victor Hugo. Die Gebilde der Kunst, die Züge einer schöpferischen Phantasie und gewandten Technik, die Schilderungen landschaft licher Bilder, großartiger Scenen aus der Natur und Menschenwelt sind oft in einem und demselben Rahmen zusammengcfaßt mit dem Häßlichen, Bizarren, Monströsen. Das Schöne, Gefällige, Hohe wird entstellt durch die Verbindung mit dem Fratzenhaften, Widernatürlichen, Gemeinen, die Kunst ironisirt und verhöhnt durch den Gegensatz. Dieses Wohlgefallen am Unschönen und Unge wöhnlichen, dieses Haschen nach dem Gezwungenen und Effectvollen, dieses Behagen am Gräßlichen und Häßlichen, an Verzerrungen und Widernatür lichem, am Laster und Verbrechen gibt sich vor Allem in Victor Hugo's Romanen kund. In einigen Erzählungen wie in „Han von Island", in der Ncgcrgc- schichte „Bug Jargal", erhob er das Monströse und Widerwärtige zum Gegen stand und Ideal seiner Poesie. Mit Ausnahme des vielbesprochenen Werkes Motre-Vaine de Uaris», worin die häßlichen Mißgestaltungen der Phantasie wenigstens durch talentvolle Schilderung mittelalterliche» Kunst- und Volkslcbens ausgeglichen und versöhnt werden, der pittoreske Effekt den historische» Pragma tismus der Erzählung in de» Hintergrund drängt, sind seine übrigen Romane lauter Zerrbilder, voll der ausgesuchtesten Seelcnleiden, Folterqualen und Un-