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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 929 „religiöse und poetische Harmonien" den Ton an, der während der Restauration bei den Franzosen am meisten Anklang fand und ihn bald zum gefeierten Lieb lingsdichter des Volks, besonders der Jugend und der Frauen, inachte. Diese Dichtungen, die man mit einer Aeolsharfc verglichen hat, auf der alle Winde des Himmels spielen, quollen aus einem Gemüthe, das selbst von den morali schen Erschütterungen des Zeitgeistes tief aufgewühlt war. Sie waren daher „ein scharfes Spiegelbild jenes peinvollen Schwankens zwischen Trauer und Lust, zwischen Täuschung und Enttäuschung, zwischen Sturm und Windstille, von dem in diesen Jahren alle gehobeneren Seelen bewegt wurden". Der schwär merische elegische Ton seiner religiösen Lyrik, die heilige, sehnsuchtsvolle Gläu bigkeit an Gott und Unsterblichkeit, die süße Melancholie seiner gefühlvollen Naturschilderungen, selbst sein rhetorischer Schwung hatte eine große Wirkung auf die jungen empfänglichen Gcmüther. „Ein ätherischer Hauch umfließt diese Gedichte, deren Farbentöne mit einer bezaubernden Milde und Lieblichkeit, wie die Wolken bei einem schönen Sonnenuntergang, in einander verschmelzen". Doch fehlt es den Gemüthsbewegungen an Tiefe, den Empfindungen an Gedanken, den Bildern an sinnlicher Frische. Der Hof suchte den Dichter, welcher der reli giösen Zeitbildung und dem royalistischen Cultus so eifrig diente, an sich zu fes seln. Lamartine würde Gesandtschaftssccrctär in Neapel, in London, in Flo renz. Ein bedeutendes Vermögen, das ihm durch seine Heirath mit einer Engländerin und durch die Erbschaft eines Oheims zuficl, setzte ihn in Stand, ein vornehmes aristokratisches Leben zu führen. Als Anhänger der Bourbons besang er die Krönung Karl's X. und trat später, verstimmt über'die Julirevo lution, begleitet von seiner englischen Gemahlin und seiner Tochter, mit fürst lichem Glanze eine Reise nach Syrien und Palästina an, die er nach seiner Rückkehr mit dichterischem Geiste und mit empfänglichem Sinn für die großartige Natur und das morgenländische Leben beschrieb. Seine beiden größer« Dich tungen, das episch-lyrische Idyll „Jocelyu", worin das praktische Ehristeu- thum, die Tugend und Entsagung einer reine» edlen Menschlichkeit, aber mit idealer Steigerung geschildert ist, und der „Fall eines Engels", in welchem sich seine ungezügelte Phantasie in die vorsündfluthliche Welt unter Titanen und Riesen »ersteigt, sollten nach seiner Angabe Fragmente eines große» Weltepos sein, das jedoch nicht zur Vollendung kam. Die inneren Seclcnkämpfe zwischen Neigung und Pflicht, zwischen sinnlicher Kraft und Entsagung, zwischen Ver stand und Ueberlieferung, die in Jocelyn warm und beredt aus dem Leben eines Landpredigers vorgeführt werden, haben ein entsprechendes Gegenbild in den landschaftlichen Gemälden von bezaubernder Frische und einer Naturftim- mung, die mit dem Grundton der Ideen harmonisch zusammenklingt. Desto weniger anziehend ist das andere Gedicht. So anmuthig und reich das idyllische Epos Jocelyn ist, so regellos, phantastisch und gräuelvoll sind die Schilderungen der Schicksale des Engels Ccdnr, der aus Liebe zu einer Erdentochter Mensch W-ber. W-Itgkschichte. XIV. 5g