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926 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. nur ihr Seitenstück in der Einbildung seines Landsmannes Chateaubriand hat. Wie denn Lamennais im Kirchenthume in sehr wesentlichen Punkten dieselbe Erscheinung bildet, wie Chateaubriand im Königthume; ganz so persönlich von sich erfüllt, ganz so Alles im Universum auf sich allein zurückbeziehend, ganz so scheinbar weltverachtend, als ob nur Verborgenheit und Einsamkeit sein Loos und Wunsch wäre, und doch ganz so vordringlich begierig nach Einfluß und Wirksamkeit, ganz so sich aufwerfend zu einer Stütze des Papsithums, wie sich jener den Stab des Königthums dünkte, ganz so verzagend an der monarchischen Welt wie jener, als er sich überzeugen mußte, daß sie ihn aufgab und sich über redete, daß sie sich selbst aufgebe". In den hochkirchlichen Kreisen war Lamennais ein gefeierter Streiter; Papst Leo XII. hängte sein Bildniß im Audienzzimmer des Vatican auf und empfing ihn bei einein Besuche in Rom st 824) mit großer Auszeichnung. Dies führte den Philosophen immer weiter auf der ultramontancn Laufbahn. In einer Schrift „lieber die Religion in ihren Beziehungen zur poli tischen und bürgerlichen Ordnung", verdammte er die Declaration von 1682, das Grundgesetz der gallikanischen Freiheiten (XII, 411) in so scharfen Worten und mit so heftigen Ausfällen gegen die Zustände des Staats und der Gesell schaft in der Gegenwart, daß selbst in jener hochkirchlichen Zeit (1826) eine Anklage gegen den Verfasser erhoben und die Unterdrückung der Schrift verhängt ward. In den klerikalen Hofkreisen sah man es nicht gerne, daß religiöse Zeit- und Streitfragen durch die Presse auf den großen Markt gebracht wurden. Man glaubte durch Jntriguen und die Mittel einer parteiischen tendenziösen Staatskunst sicherer zum Ziel zu kommen. Selbst in Rom trug man Bedenken, den übereifrigen Vorkämpfer der streitenden Kirche mit dem apostolischen Schilde zu decken. Nun schwieg Lamennais einige Jahre, verbittert auf Rom, das ihn „aus Furcht und Schwäche" im Stiche gelassen, und grollend der Regierung, die seine Maßlosigkeiten nicht dulden wollte. In diesen Jahre» vollzog sich in seinem Innern der Umschlag, der ihn aus den Armen des Romanismus, dessen Haupt und Glieder in seinen Augen abgestorben waren, mehr und mehr auf die Seite des Volks drängte und zum Entwurf eines Bundes des Katholicismus mit der Freiheit trieb. Die Julirevolution rief ihn von Neuem auf den Kampfplatz. In der Zeitschrift l'Xveuir, die er mit dem jungen Grafen Montalivet, init den Geistlichen Lacordaire und Gerbet und einigen weltlichen Mitarbeitern gründete, stellte er Ansichten auf. die sowohl der Regierung als der römischen Curie und der Hierarchie mißfielen. Hatte er früher der Herrschaft der Kirche über die Welt das Wort geredet, so forderte er jetzt unbedingte Freiheit, Freiheit der Kirche, Frei heit der Presse, Freiheit des Unterrichts. Die Geistlichkeit sollte unabhängig vom Staat sein, die Kirche arm aber frei. Schule und Unterrichtswcse» nicht mehr unter der Oberleitung der Universität stehen. Dabei trat er der ganzen , liberalen Zeitbildung schroff entgegen, indem er alle Philosophie, den freien Ge brauch der Vernunft und Denkkraft, die zum Scepticismus führe, verdammte.