Volltext Seite (XML)
II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 915 M. I. Chcnier in den Dramen „Fenclon" und „Timolevn" kund; doch beweisen sowohl diese Stücke als seine in Taciteischcm Geiste gedichtete Tragödie „Tiber", daß ihm der Terrorismus nachgerade zu stark wurde. Zm Timolcon wird von der übermüthigcn Tyrannei gesprochen, die ohne Scheu den Namen der Freiheit usurpirt. Bei dem Feste des höchsten Wesens (XIII, 929) dichtete er die Festhymne. Unter dem Dircctorium vielfach angcfeindct und von seinen Gegnern als Brudermörder, als Kain oder Timo- leon geschmäht, rächte er sich für die Verleumdung mit scharfen Satiren. Durch seinen „Cyrus" wollte er auf dieselbe Weise für Bonaparte's Kaiserthum wirken, wie er für die Revolution durch Karl IX. gewirkt hatte. Sein Stück mißfiel aber den Parisern durch die Schmeichelei des darin vergötterten ersten Consuls und diesem, seinen Kreaturen und Höflingen durch die vielen guten Lehreu für Monarchen, die Chcnier dem Stücke einverlcibt hatte. Durch die „Epistel an Voltaire", worin er kräftig und würdig seinen Abscheu gegen alle Willkürhcrrschaft aussprach, suchte sich Chcnier für das Mißlingen seines Planes zu rächen und gewann dadurch wieder in demselben Grade die Gunst des Publikums, als er sich die Ungnade des Herrschers zuzog. Während seiner letzten Jahre wendete er sich hauptsächlich geschichtlichen und literarischen Studien zu, treu den Grund sätzen der geistigen und politischen Freiheit, aber milder und nachsichtiger als in den Tagen seiner republikanischen Jugend. Wie Frau Roland die bedeutendste Vertreterin des von Rousseau gelehrten demokratischen Idealismus und der Vernunftschwärnierei war, so ihre geistreiche Zeitgenossin Frau Necker-Staeldes von Montesquieu gepriesenen Constitutio- R'ch'ung- nalismus und Rechtsstaates. Anne Louise Germainc de Stack, die Tochter des pro- testnntischcn Bankiers und Ministers Nccker, im Jahr 1786 vermält mit dem schwe- dischen Gesandten Stael-Holstein (XIII, 817), gehörte zu jenen Pariser Damen die durch Geist, Bildung und gesellige Talente sich eine hervorragende Stellung in den höheren Kreisen der französischen Weltstadt zu verschaffen wußten, und durch die in ihrem Salon vereinigten gelehrten und genialen Cirkel auf den Geist und die Richtung der Literatur und der Ansichten ciuwirkten. Ihrer Erziehung und Bildung nach der alten Zeit angehörend, war ihr Geist elastisch genug, sich auch in die durch die Revolution veränderten Verhältnisse und Ideen zu finden und sie zu verarbeiten. Von ihrem Familiengut Coppet am Genfer See, wo sie mit ihrem Vater die Jahre des revolutionären Terrorismus verbracht, nach Paris zurückkchreud, nahm sie zur Zeit der Directorialregierung und selbst noch unter de», Consulat eine einflußreiche gesellschaftliche Stellung ein, bis Napoleon, der weder eine selbständige Haltung, noch irgend eine stille oder laute Opposition gegen seine Machtherrschaft ertrug, sie aus der Hauptstadt verbannte, dadurch aber ihren Namen mit dem Glanz des Märtyrerthums umgab. Da sic den republikanischen Liberalismus und die bürgerliche Bildung der Revolutionszeit niit der aristokratischen Feinheit und Formvollendung des alten Regime zu ver binden und endlich auch die neuromantische Gefühlscligkeit und Sentimentalität sich anzueignen wußte, so wurde sie vermöge dieser geistigen Vielseitigkeit das Orakel der literarischen und vornehmen Welt, deren Spitzen sich in ihrem Hause versammelten. Ihre Werke zerfallen in drei Klassen, in politische, ästhetisch- sociale und poetische, die jedoch häufig in einander übergehen. Von der Zeit an, 58*