76 ^ Europa unter Bonapartischem Einfluß. Verdächtigungen gegen die Regierung und den gesetzgebenden Körper die Nvth- wendigkeit einer Aenderung der öffentlichen Ordnung darzuthun suchte, damit die Republik von den ihr drohenden Gefahren gerettet werde. Er sprach von Verschwörungen gegen seine Person, von verleumderischen Nachreden, von dem Gott des Sieges, der vor ihm herschrcite. Er forderte die Versammlung auf, die Freiheit und Gleichheit zu retten. Als einer der Abgeordneten ausrief: „Und die Verfassung!" fuhr er zornig auf: „Die Verfassung! Ihr habt sie verletzt am 18. Fructidor; Ihr habt sie verletzt am 22. Floreal; Ihr habt sie verletzt am 30. Prairial. Die Verfassung! Von allen Factionen wird sie angerufen, alle haben sie geschädigt, von allen wird sie verachtet. Sie kann uns keine Ret tung mehr schaffen, weil sie von Niemand anerkannt wird". Der Vorwurf war nicht uugegründet. Nur hatte Napoleon selbst bei den Rechtsverletzungen eifrig niitgcholfen. Wie sehr immer der Präsident und die Mehrzahl der Vertreter mir dem beabsichtigten Staatsstreich einverstanden waren, die Rede machte den übel sten Eindruck: selbst in der veränderten und verbesserten Gestalt, in welcher sie am folgenden Tag in der Staatszeitung erschien, konnte sie nicht als eine Be gründung oder Rechtfertigung des revolutionären Gewaltaktes gelten. Betroffen und verwirrt über die immer lauter und drohender hervorbrecheude Opposition verließ Napoleon den Saal und schritt, wie einst Cromwcll zu militärischen Maßregeln. Als die Versammlung über die Frage von der Rechtsgültigkeit der » Amtsentsagung der Directoren in Verhandlung trat, öffnete sich die Thüre und Napoleon erschien an der Spitze einiger Grenadiere. Nun erhob sich ein furcht barer Tumult. Man hörte den Ruf: Nieder mit dem Dictator! Außer dem Gesetze! Die hitzigsten Republikaner drängten sich an ihn, faßten ihn an, stießen ihn zurück. Cs hieß sogar, es sei ein Dolch auf ihn gezückt worden. Unter solchen tumultuarischen Auftritten verließ Lucian Bonaparte den Präsi dentensitz und begab sich zu dem Bruder. Nun ertheilte Napoleon den Grena dieren Murats den Befehl, unter Trommelschlag einzurücken und niit gefälltem Bayonnette den Sitzungssaal zu räumen. Die bonapartistisch gesinnten Deputirten zogen ab; die Republikaner dagegen boten der Gefahr eine Zeitlang muthig die Stirne, mußten aber zuletzt der Uebermacht Weichen und durch Thüren und Fenster ihr Heil suchen; die Trotzigsten wurden von den Grenadieren fortgctra- gen. Noch einmal hörte man den Ruf: „Es lebe die Republik!" Es war der letzte vcrzweiflungsvolle Aufschrei der sterbenden Freiheit. Von da an kam Frankreich unter eine diktatorische Militärherrschaft, anfangs mit der Form einer Scheinrepublik, dann in der nackten Gestalt des Despotismus. siaaiMcichs Spät am Abend versammelte sich eine Anzahl ergebener Mitglieder des Raths der Fünfhundert um Lucian Bonaparte und faßte, nachdem sie sich als ge- "»-mbech setzgebendeu Körper constituirt und dem Obergeneral sammt seinen Offizieren den Dank des Vaterlandes ausgesprochen, die von den Urhebern des Staatsstreiches schon im voraus festgestellten Beschlüsse: Einsetzung eines provisorischen Eon-