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908 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. unter der Restauration erlangte die neue Romantik mit ihrer religiösen Senti mentalität die Herrschaft und stützte und förderte das System der kirchlichen Gläubigkeit und der Legitimität. Was in den hohen Gesellschaftskreisen aus Politik begünstigt ward, fand bei einem großen Theil der Nation Anklang. Ueberall sehnte man sich aus der einförmigen Wirklichkeit heraus nach einem Lande der Ideale und Märchen. Neben allen diesen Richtungen lief jedoch gleichzeitig eine kräftige Opposition einher, die bald mehr, bald weniger geschickt und erfolgreich gegen die herrschende Richtung Widerspruch einlegte und dadurch eine gefährliche Einseitigkeit verhinderte. Diese Opposition ging zuerst von dem Romanticismus aus gegen die abgelebten und entarteten Formen der alten Klas- ficität; als jener aber selbst zur Herrschaft kam und seiner Eigenthümlichkeit ausschließliche Geltung verleihen wollte, erstand ihm im Liberalismus und im Hellenismus ein mächtiger Gegner, bis endlich der Socialismus auch in der Li teratur einen breiten Boden gewann. Die Muse, die sich anfangs mit den Lilien geschmückt, setzte zuletzt die rothe Mütze auf. DitMEch,. Die sittliche Entartung und religiöse Versunkenheit, die der Revolution voranging, gab sich zunächst in der Literatur kund. Nicht nur, daß die zersetzende Kritik und beißende Satire eines Voltaire die bestehenden Verhältnisse, die über lieferten Meinungen und Grundsätze erschütterte; nicht nur, daß die skeptische und materialistische Philosophie der Encyclopädisten den Kirchenglauben und die Grundwahrheiten der Religion angriff; auch die Begriffe von Tugend und Ehr barkeit wurden durch die leichtfertige Romanliteratur der Zeit verkehrt und ver wirrt und die Sittlichkeit in ihrem innersten Kerne vergiftet. Dieses letztere Uebel war um so wirksamer und folgenreicher, als die Romanliteratur sich immer weiter verbreitete und in alle Klassen drang. Die schlüpfrigen, unsittlichen, zu Sünde und Wollust verlockenden Romane des jünger» Crebillon (-j- 1777) und des Abbe Prevost jXIII, 140), das abscheuliche Buch »ckustine ou les Nmllreurs els la vertu« des Marquis de Sade, eines verwilderten Sohnes der Aristokratie, der im Irrenhaus endigte (-j- 1814), die »lüaisoim claiiKe- reuses« des Choderlos de la Clos (-H 1803), eines Genoffen des laster haften Herzogs Egalite von Orleans; der berüchtigte Roman des Girondisten und Convcntsgliedes LouvetdeCouvray (-j- 1797) »leo amour8 äu olls- valisr äe IHrlas«, in dem „das Ideal der liebenswürdigen Liederlichkeit" aus gestellt ist, hatten den sittlichen Boden der Gesellschaft bereits untergraben, als die Revolution wie ein göttliches Strafgericht diese vollends niederwarf, um sie auf neuer Grundlage aufzuführen. Dieses revolutionäre Strafgericht wurde wesentlich gefördert durch die in Anlage und Ausführung meisterhaften Lustspiele des Büh- D-aumaichaisnendichtcrs P.A. Caron de Beaumarchais h,derBarbier von Sevilla"; „Fi- " garo's Hochzeit"), worin mit allem Zauber der Kunst und mit hinreißender Leben digkeit unter Witz und Scherz die ganze Frivolität und der leichtfertige Muthwillcn der höher» Stände dargcstellt ist, so daß inan behaupten kann, daß diese politischen