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898 8. Vom Wiener Kongreß bis zur Julirevolution. arbeitete und dessen Lehre von den ewigen Urbildern bekannt machte, fing er auch selbst an, an ein religiös-sittliches Urbild zu glauben, welches der christlichen Gemeinde in der Person ihres Stifters aufgegangcn war. So hatte er schon die mannichfachsten Bil dungsstoffe in sich verarbeitet, als er nach Auflösung der Universität Halle seit 1807 isos. sich dauernd in Berlin niederließ, wo er Prediger an der Trinitatiskirche und bei Grün- isiv. düng der Universität zugleich auch Professor der Theologie wurde. Jetzt stand er auf der Höhe des Lebens und der Wirksamkeit. Zwar hörte seine Thätigkeit im Ministerium des Innern schon 1814, wo auch er politisch verdächtig zu werden ansing, auf. Da für hat er seither der philosophischen Abtheilung der Akademie der Wissenschaften als Secrctär angehört. Die Woche über von Jünglingen aus allen Theilen des Vaterlan des umgeben, erholte er sich von der erkältenden Verstandesarbeit des Sonntags auf der Kanzel, um welche sich stets eine auserlesene Gemeinde von solchen sammelte, welche sich in der Erbauung belehrt und in der Belehrung erbaut finden wollten. Nur bei einer sehr haushälterischen Benutzung der Zeit konnte eine so erstaunlich vielseitige Thätigkeit ein Viertcljahrhundert über in der aufreibenden Luft der Metropole des protestantischen Deutschlands entfaltet werden. Mit strenger Enthaltsamkeit hatte er seine geistigen Kräfte gespart und gerade sein Hauptwerk vom „christlichen Glauben" bis über das fünfzigste Lebensjahr in sich reifen lasten, bis es endlich seine vollendete Form is2i. fand, in welcher cs in die Oeffcntlichkcit trat. Es bildet im Grunde nur die Ausfüh rung des wichtigsten Theiles seiner schon zehn Jahre früher erschienenen Enchklodädie isli. der Theologie, in welcher die der letzteren angehörigen Fachdisciplincn als an sich theils der Geschichte, theils der Philosophie, theils der klassischen und orientalischen Philologie anhcimfallend, aber durch das praktische Interesse für die Bildung künftiger Diener der Kirche zusammcngehaltcn erscheinen. Dogmam. Nicht minder tretm auch die Grundlinien der Anschauungen, welche in den „Reden" niedergelegt waren, noch erkennbarst zu Tage in der „Glaubenslehre". Nur ist mittlerweile aus dem „Gefühl", welches die Reden als solches schon heilig sprechen, das „Gesühl schlechtbiniger Abhängigkeit" geworden, und wird überhaupt von den ge wonnenen Grundsätzen über das Wesen der Religion durchgängige Anwendung auf das Christenthum gemacht, um in ihm die höchste Erscheinung der Religion, im Be wußtsein seines Stifters den Punkt nachzuweisen, wo das menschliche Gottesbewußt- scin sich vollendet und aus dem es für alle Zeiten ausreichende Nahrung gezogen hat. Auf der einen Seite soll, wie es die Geschichte verlangt, dieser Christus ein Mensch sein wie andere; auf der andren aber, wie aus dem von ihm producirten Gottesbewußtsein der christlichen Gemeinschaft erschlossen wird, soll dieses Gottcsbewußtsein in so ur sprünglicher und unerschöpflicher Füllein ihm gewaltet haben, daß alle Momente seines Lebens mit religiösem Gehalt erfüllt und er selbst das vollendete Urbild der Mensch heit, in dem Gott selbst wohnte, geworden ist. Ob diese beiden Seiten miteinander überhaupt zu vereinigen, ist eine andere Frage. Sie bildete das Problem, darum sich noch geraume Zeit nach Schleiermacher die theologische Discussion bewegte. In der Anschauung, welche Schleiermacher von seinem religiösen Ideale gewonnen hatte, waren sie jedenfalls vereinigt. Sie konnten es gerade für ihn um so mehr sein, als die Ver einigung zweier auseinander klaffender Richtungen kraft der zusammenhaltenden Macht der Persönlichkeit das Geheimniß seiner eigenen Individualität bildete. Ein wahrer Virtuose des Gefühlslebens, ein Enthusiast in der edelsten Bedeutung des Wortes, dessen Begeisterung das Licht der Idealität auch aus seine ganze Umgebung warf, wie fein Briefwechsel bezeugt, war ec auf der anderen Seite wieder ein Meister der Dia lektik und der Reflexion, mit welcher er stets die Welt des eigenen Gcmüths überwachte und ordnete. Seinen scharfen, scheidenden und zersetzenden Verstand bekunden gelehrte