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II. Literatur u. Geistesleben im neunzchntcn Jahrhundert. 897 unmittelbaren „Gefühl". Die Religion, welche für die alten, der „reinen Lehre" hul digenden Theologen ein Gegenstand des Erkennens, für den auf sie folgenden, durchaus moralisch gestimmten Rationalismus ein Beweggrund des Willens und eine Norm des Thuns gewesen war, wurde auf solche Weise in tiefere, aber auch dunklere Regionen verlegt; sie erscheint hier als Nerv, durch welchen das Individuum seines Zusammen hangs mit dem Ganzen, seines Lebens im göttlichen All inne wird; sie heißt geradezu „Sinn und Geschmack für das Unendliche", beruhend auf der Virtuosität, durch alle Hüllen und Schleier des Endlichen hindurch die Schläge des göttlichen Herzens zu em pfinden, mitten in den Disharmonien des irdischen Daseins der heiligen Musik sich zu erfreuen, welche aus dem Innern tönt. Bei einer solchen Auffassung des religiösen Vorganges mußte sich Schlciermacher freilich in demselben Verhältnisse, als er sich von Kant entfernt, von Spinoza angczogcn fühlen, und so bringt er denn auch in den Reden „den Manen des verstoßenen Heiligen" eine schwungvolle Huldigung dar <s- Bd. XII, S. 733 s.). Nachdem Schleiermacher versucht hatte, die Religion in diesem Sinne einer eben mit Schillings Auftreten anbrcchenden Weltanschauung aufs Neue als ein wesent liches Element gerade ded höchsten geistigen Lebens nachzuweiscn und den Zeitgenossen zu Gemüthe zu führen, daß ihr inneres Leben aller Weihe, ihre Weltanschauung des letzten Abschluffes, ihr Denken und ihr Wollen der inneren Vermittelung und Einheit entbehren würde ohne sie, stellte er in den „Monologen" ebenso dem Kantischen, auf Uniformität des Handelns abzielenden, Moralprinzip neue Normen der Selbstbeurthei- lung entgegen, die mehr an den Idealismus Fichtc's und seine Lehre vom freien, schöpferischen Ich erinnern. ES ist im Grunde der gerade jener Zeit wieder wie ein leuchtendes Gestirn ausgehende Begriff der Individualität, den sic durchführen. Jeder soll sich als ein besonderes Werk der Gottheit wissen, jeder seine Eigenart als das ihm vertraute Heiligthum bilden und wahren. „Beginne schon jetzt dein ewiges Leben in steter Selbstbetrachtung; sorge nicht um das was kommen wird, weine nicht um das was vergeht; aber sorge, dich selbst nicht zu verlieren, und weine, wenn du dahin treibst im Strome der Zeit, ohne den Himmel in dir zu tragen". „Nimmer soll mir der frische Lcbcnsmuth vergehen; was mich jetzt erfreut, soll mich immer erfreuen; stark soll mir bleiben der Wille, lebendig die Phantasie. Nichts soll mir den Zauber- schlüffel entreißen, der die geheimnißvollen Thore der höheren Welt mir öffnet; nimmer soll mir verlöschen das Feuer der Jugend; kräftige Verachtung gelobe ich mir gegen alles Ungemach, ewige Jugend schwöre ich mir selbst". Es ist Thatsache, daß diese Schriften auf die Zeit und auch noch unter nachwach senden Geschlechtern gewirkt haben fast wie ein neues Evangelium; sie haben ihrem Verfasser eine, von keinerlei Confcssionsschranken eingeengte, weit über die theologischen Kreise hinausreichende Gemeinde gebildet. Mit ihnen war Schlciermacher Schriftsteller der Nation geworden. Er selbst fand Erholung für die Aufregung des Berliner Auf enthaltes zu Stolpe, wo er einige Jahre lang als Prediger wirkte. DaS Crträgniß 1802-04. seines Stilllebens in Hinterpommern liegt vor in den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlchre", einer Vorstudie zu seinen umfassenderen ethischen Arbeiten. Eine zweite Periode seiner schriftstellerischen Wirksamkeit, die schon mehr specifisch theo logischen Charakter an sich trägt, beginnt mit seiner Berufung als Professor der Theo logie nach Halle. Hier trat er nicht blos allen Fachstudien näher, sondern veröffent- iso4 lichte auch die kleine Schrift „Weihnachtsfeier" — ein Gespräch über den Festgcgen- stand, womit Freunde und Freundinnen sich den heiligen Abend verkürzen. Schon hier isvs. kündigt sich die Wendung nach dem positiv Christlichen deutlich an. Zur selben Zeit als Schlciermacher rastlos am Plato, dessen wahlverwandter Geist ihn mächtig anzog. W«b«r, Wrltgischich». IIV. 57