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894 L. Vom Wiener Kongreß bis zur Julirevolution. auch gleich seit seinem Beginne ihre merkwürdigste und bezeichnendste Kundgebung auf dem Gebiete der biblischen Wissenschaften begrüßen sollte, dengelehrten Evangelicn- commentar des Professors Paulus, seit 1787 in Jena, seit 1807 in Würzburg, Paulus Bamberg, Nürnberg und Anspach, seit 1811 in Heidelberg wirksam. Hier ist Beides nm-ibül. charakteristisch, sowohl die Freiheit des theologischen Denkens, welches durchaus nichts Uebernatürliches oder auch nur Unbegreifliches mehr dulden will, als auch die Gebundenheit desselben Denkens, wie sie sich darin ausspricht, daß der Inhalt unserer Evangelien noch durchweg auf Augen- und Ohrenzeugcn zurückgcführt und als treue und genaue Berichterstattung verthcidigt wird. In der Vereinigung dieser beiden Vor aussetzungen besteht die einst viel bewunderte, dann nicht immer aus wissenschaftlichen Motiven verspottete, Kunst seiner Auslegung, vermöge welcher er keiner anderen Mittel als der im Text selbst gegebenen zu bedürfen glaubte, um aus demselben alles Ueber- natürliche und Wundervolle zu entfernen. So gewinnt der Leser zwar anscheinend ein anschauliches Bild von einem wirklichen Thatbestand, aber diese Anschaulichkeit dient nur dazu, uns eine Reihe ordinärer und trivialer Alltagsgefchichtcn vorzuführcn, die es unbegreiflich erscheinen lassen, wie das Urchristenthum jemals die Phantasie des Vol kes in Anspruch nehmen und im Bewußtsein der Gläubigen sich mit dem göttlichen Inhalte erfüllen konnte, mit welchem es in die Geschichte eingetreten ist. Alles läuft ani Ende hinaus auf eine Täuschung, welcher die Mutter Jesu schon vor seiner Geburt unterlegen war, welche dann aber als mcssianischcs Bewußtsein schon in dem Knaben Jesu groß gewachsen oder von seiner Umgebung groß gezogen worden ist. Leider sind des belesenen und scharfsinnigen Mannes, der noch in den Zeiten maßlosester Reaction seinen Freimuth und seine „Ueberzcugungstreue" (so übersetzte er das biblische Wort „Glauben") zu bewähren verstand, sonstige Verdienste fast vergessen worden über diesen barocken, später in seinem „Leben Jesu" zusammengefaßten, Ansichten über das „Ur christenthum". Karl Daub Die Richtung, welcher Paulus im Verein mit Voß und einer schwindenden An- 1705-1836. von Gesinnungsgenossen sowohl persönlich in Heidelberg als auch schriftstellerisch in Büchern und Zeitschriften entgcgcnzutrcten sich berufen fand, läßt sich auch auf theo logischem Gebiete als die romantische bezeichnen. War bei Kant einst das sittliche Wesen des Menschen an sich als Ueberwindung des Gegensatzes zwischen der Er scheinungswelt und der übersinnlichen, intelligibcln Welt ausgetreten, so verstand cs sich freilich für eine so hervorragend sittlich veranlagte Natur wie der Heidelberger College von Paulus, Karl Daub war, der jetzt aus der Schule Kant's in diejenige Schelling's überging, von selbst, daß jene Errungenschaft der kritischen Philosophie auch auf der Höhe der Jdcntitätslchre nicht aufgcgeben werden sollte und konnte. So wuchs in ihm die erste Hauptgestaltung der modernen Theologie, die Kantische, auf normale Weise in die zweite, die spcculative, hinüber. Daub vornehmlich vertrat in Gemeinschaft mit dem Philologen und Symboliker Creuzer diese Richtung an der Universität. Von ihm rühren die ersten theologischen Versuche zu einer durchaus spcculativen Behandlung der dogmatischen Probleme her. Im Geiste der theologisch fortgebildcten Jdcntitätslchre wird das Christenthum als die symbolische, geschichtlich begrenzte Form aufgesaßt, in welcher die ewigen Wahrheiten so ausgeprägt sind, daß sie zu Lehren werden, welche den unmittelbaren Glauben und das freie Handeln im Glauben ermöglichen; ohne daß es je zur Frage nach dem Verhältnisse der geschichtlichen Wirklichkeit zur philosophischen Wahrheit käme, schaut der geistreiche Theosoph immer Beides zusammen in Einem und handhabt mit einer Unbefangenheit, welche dann bis zum Auftreten von D. F. Strauß auch in der theologischen Schule Hegcl's geherrscht hat, die dogmatischen Bestimmungen der Kirche über Person und Werk Christi als des Gottmcnschcn einfach wie sinnbild-