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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 893 schriftlichen Forschung, so daß jener diese nicht hindern und diese nicht jenen ausschließe". Diese Grundsätze sind bekanntlich nach seinem Tode aufgegeben worden. In Preußen insonderheit sind ihre Vertreter bald systematisch zurückgedrängt worden, und auch, wo man sie in der Wissenschaft anerkannt hat, hat man sie im Leben prcisgegcben. Es war der Schmerz seines Alters, daß er diese Wen dung vorausahnte, ja schon zu seinen Füßen die Verderben bringenden „Larven überall hervorkriechen" sah. „Soll denn der Knoten der Geschichte so auseinander gehen — ruft er — das Christcnthum mit der Barbarei und die Wissenschaft niit dem Unglauben?" Zunächst brachen neue Händel innerhalb der theologi schen Welt los, indem Schleiermacher's dogmatische Bestimmungen fast nicht weniger Anlaß zu verhängnißvollen Mißverständnissen und grellen Widersprüchen abgaben, als diejenigen Hegel's. Am schroffsten aber standen sich freilich beide Schulen selbst gegenüber. Schleicrmacher hatte die Religion als eine Sache für sich anfgcfaßt und bei der Erhebung der im unmittelbaren Gottcsgefühl beschlos senen Schätze jede Betheiligung der Philosophie abgelchnt. Hegel seinerseits wollte sich im Namen der letzteren eine solche Ausschließlichkeit nicht gefallen lassen: nur die Philosophie könne der Dogmatik den Werth der Wissenschaft verleihen; das Gefühl, worauf Schleicrmacher Alles stellte, sei das niedrigste Gefäß für einen göttlichen Inhalt. Nimmt man nun noch hinzu, daß gleich zeitig auch der alte Rationalismus, wiewohl den jetzt zur Herrschaft gelangenden Nestaurationsideen von Grund aus widerstrebend, z. B. in der „Allgemeinen Kirchenzeitung" sortbestand, und daß auf der entgegengesetzten Seite Hengsten- berg 1828 seine „Evangelische Kirchenzeitung" als Organ für neumodische Or thodoxie, Dennnciantenthum und Ketzerverfolgung gründete, so gewinnen wir ein nicht eben erfreuliches Bild von dem allenthalben unfertigen Wesen und von der Zersplitterung, welche ans diesem Gebiete allmählich eingerissen waren und die dadurch, daß die meisten deutschen Staats- und Kirchcnrcgicrungcn sich je länger desto ausschließlicher nur für die entschieden rückläufigen Richtungen interessirten, wahrlich nicht geringer werden konnten. Wir haben in» vorigen Bande die Geschichte deS religiösen Lebens in Deutschland, soweit dasselbe sich in theoretischen Forinen zu fassen sucht und in der philosophischen, vornehmlich aber in der theologischen Literatur zum Ausdruck gelangt, fortgeführt bis zum fast vollständigen Sieg, welchen die Aufklärung in Gestalt des Rationalismus errungen hat sBd. XIII, S. 651 f.). Wir haben zugleich aber auch neben der zu nehmenden Berstandcsdürre und Gcmüthsleere der herrschenden Theologie nicht blos dunkle und phantastische, nichtsdestoweniger kräftige, Regungen des Mhsticismus walten sehen, sondern auch das Bestehen eines theologisch geschulten Supranaturalismus ver zeichnet, welcher selbst aus der Philosophie Kant's Nahrung zu ziehen wußte (S. 700f.). Der alte Streit zwischen dieser und der „dcnkgläubigen" Theologie zog sich nunmehr auch noch tief in das neue Jahrhundert hinein, welches nicht blos in Röhr's Briefen über Rationalismus (1813) und in Wegscheider's Institutionen (1815) den klassischen Ausdruck dieser Richtung auf dogmatischem Gebiet, sondern