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892 u. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. versäumte er aber nicht darauf hinzuweisen, daß das Dogma, sei es der Bibel, sei es der Kirchenlehre entlehnt, nicht als Gegenstand, sondern blos als Ausdruck des religiösen Glaubens gelten wolle und könne. War ja doch der entgegen stehende Jrrthum der römischen und der altprotestantischen Dogmatik die frucht bare Mutter aller Ausschließlichkeit und Unverträglichkeit geworden. Um so un geschmälerter bleibt sein Verdienst, nicht blos, wie Lessing, die sittliche, sondern auch die logische Nothwendigkeit der Toleranz mit dem neugeweckten Interesse an der Welt des Glaubens verbunden zu haben. Wie für denjenigen, welcher die Naturwissenschaften treibt, nicht eine oder die andere Formel, nicht ein Buch oder ein System von der Natur, sondern die Natur selbst der Gegenstand, die Formel dagegen der dem Bedürfnisse des Augenblicks Genüge leistende aber in steter Veränderung begriffene Ausdruck der erlangten Kenntniß ist, so ist auch das Dogma in der Religion nicht der Gegenstand des Glaubens, sondern der Ausdruck dessen, was des Menschen religiöser Geist von Gottesahnungen um schließt. Jedes Geschlecht besitzt natürlich in dieser Beziehung seine eigene Sprache, und so wurde die Dogmatik hier aus dem Bereiche der systematischen ausdrücklich in denjenigen der historischen Wissenschaften versetzt. Nicht blos das Gebiet der Glaubenslehre ist somit ein anderes geworden, sofern Schleiermacher sie als Entfaltung des christlichen Bewußtseins behandelte, sondern auch die Me thode. Was sich, wie jenes Gesammtbewußtsein einer gläubigen Gemeinde, allmählich und fortschreitend aufschließt und abklärt, verträgt eben nur eine histo rische oder besser eine beschreibende Darlegung. Nicht als ob Schleiermacher selbst ein Genüge daran gefunden hätte, die Religion blos historisch zu begreifen und ein Inventar über ihre Reichthümer aufzustellen; ihm kam cs gegcnthcils vor Allem darauf an, ihr ewiges Feuer in sich und Andern wach zu erhalten und gleichsam die Wärmcempfindung dafür zu schärfen. Wie er aber schon in den „Reden über die Religion" das ungemünzte, echte Metall unterscheiden lehrte von den ausgeprägten Münzsorten, welche als dogmatische Formeln im täglichen Tauschvcrkehr Vorkommen, so hätte er wohl auch grundsätzlich nichts dagegen einzuwcndcn gehabt, wenn die von ihm selbst in Umlauf gesetzten Formulirungen des Glaubcnsbestandes schon im Verlaufe des nächsten Menschenalters nach seinem Tode von seinen eigenen Anhängern und Nachfolgern als nicht mehr ausreichend befunden worden sind, indem die zur Rechten Gehenden ihren kirch lichen Werth nicht mehr als vollhaltig anerkennen wollten, die zur Linken da gegen in seinen Sätzen dem alten Glauben größere Zugeständnisse gemacht sahen, als nach den eigenen Voraussetzungen des Systems zu rechtfertigen war. Er selbst aber konnte immer nnr auf der Seite stehen, wo überzeugungsvoll und niuthig diejenige Tendenz befolgt wurde, welche er als das Ziel der Reformation und insbesondere als Bedürfniß der Gegenwart dahin formulirt hatte: „einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelafsenen, unabhängig für sich arbeitenden wissen-