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880 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. is4t. nach Berlin berufen, ohne daß diese fünfte Spätlingsperiode seiner Wirksamkeit noch irgend welche bedeutendere Früchte gezeitigt hätte. Denn was seine Berliner Antritts vorlesung versprach , Ergänzung der negativen Philosophie durch eine positive, näher durch eine „Philosophie der Mythologie und Offenbarung", d. h. der unvollendeten und der vollendeten Religion, das hat Schelling selbst, so viel an ihm mar, der Welt vorenthalten. Indessen geben die betreffenden Vorlesungen, schon bei Lebzeiten des Verfassers sowohl von Fraucnstädt als von Paulus, nach seinem am 20. August 1854 im Badeorte Ragaz erfolgten Tode in authentischer Form veröffentlicht, im Wesent lichen die in der Schrift über die menschliche Freiheit vorgetragcne Speculation. Nur die Terminologie ist anders, und die aus den drei „Potenzen" in Gott hervorgchendcn drei Personen bilden den Uebergang und Untergang dieser einst himmelstürmcndcn Speculation im kirchlichen Vorstellungskreis und Lchrausdruck ab. Dafür erbauten sich die vornehmen Kreise, welche sich für die Heilung der von Hcgel's Philosophie geschla genen Wunden intcressirtcn, an dem geistreichen, aber schiefen und irreführenden Ge danken, es müsse aus die petrinisch - katholische und auf die paulinisch-protestantische Epoche der Christenheit eine Johanneskirche der Zukunft folgen, in welcher die absolute, mit der Religion identische Philosophie die Hegemonie führen wird. Die Philosophie Schclling's ist sonach kein geschlossenes, fertiges Spstem, zu welchem sich die einzelnen Schriften wie Bausteine verhielten, sondern sie ist ähnlich wie diejenige Plato's Entwickelungsgeschichte, und zwar individuelle: sie umfaßt eine Reihe von Bildungsstufen, welche der Philosoph in sich selbst durchgcmacht hat. Rastlos wirst er sich in den verschiedensten Formen umher, sängt, anstatt die einzelnen Wissen schaften vom Standpunkte seines Prinzips aus zu bearbeiten und das Ganze der Wissenschaft zu gliedern, immer wieder von vorn an, experimcntirt mit neuen Stand punkten und Wegen, um stets auch auf der neuen Fährte bald stille zu halten. Mit sich übereilender Kühnheit überschaut er von jeder Stufe, welche sein Dcnkprozeß durch macht, immer wieder die ganze Wirklichkeit, um sie durch mehr oder weniger glückliche Griffe nach sehr allgemeinen Kategorien und oft nur in den ersten Umrissen zu ordnen oder auch nach seinen momentanen Interessen und zufälligen Studien eine spezielle Erscheinung hervorzuheben, welche dann auch wieder mit Hast und ohne empirische Ge nauigkeit construirt wird. Aber in so vielerlei Umgestaltungen und wiederholten Dar stellungen er seine Gedanken auch ans Licht gebracht hat; stets hatte er gleich leichtes Spiel, wenn es galt das Allgemeinste in das Speziellste hincinzulcgen, die ernsthaftesten Gegensätze auszulöschen in genialen Anschauungen und philosophischen Apcrxus , welche oft ein überraschend blendendes Licht auf weite Gebiete des geistigen wie des physischen Kosmos werfen. Unter den Anhängern und Geistesverwandten Schclling's sind zu nennen JohannJa»bJohann Jacob Wagner, welcher das ursprüngliche Jdcntitätssystcm festhiclt, 1775-I82N jedoch an die Stelle der drcitheiligcn die viertheiligc Construction setzte, und Philosophen wie Suabedisscn, Blasche und Troxler, Naturforscher wie Lorenz Oke n, Nees von Esenbeck, Alexander Braun, Karl Friedrich Burdach, Karl Gustav Carus und Hans Christian Oersted, der Aesthetiker Sol- ger, der vielseitig gebildete Romantiker und Altlutheraner Heinrich Steffens und sein Freund Johann Erich von Berger. Innerhalb der protestantischen Theologie und Religionsphilosophie knüpfte an Schelling besonders die bei dem Philo sophen Christian Hermann Weiße und bei dem Theologen Richard Rothe hcrvortrctende Tendenz an, mit der Persönlichkeit und überweltlichcn Selbständigkeit Gottes seine Jnnerweltlichkeit zu verbinden. Anstatt wie sie allein vom Absoluten ausgehend, strebte Immanuel Hermann Fichte, Sohn des Schöpfers der