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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 875 sich in höherer Potenz aus der Stufe der organischen wiederholen. Damit war der idealen Transccndcntal-Philosophic Fichte's ein neues System zur Seite getreten, die „Naturphilosophie". Den Uebcrgang zu dieser zweiten Periode von Schelling's schrift stellerischer Thätigkeit bezeichnen die Schriften „Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" und „System des transcendcntalcn Idealismus", in welchen Natur E. und Geist, das reale und ideale Sein, als negativer und positiver Pol des Einen, des Ganzen, des Absoluten erscheinen. „Jdentitütsphilosophie" ist daher die umfassendere, die verschiedenen Wandlungen der Entwickelung Schelling's, aber auch die Systeme seiner Nachfolger, namentlich dasjenige Hcgel's, gemeinsam begreifende Bezeichnung. Dort der Inbegriff alles Objcctivcn, hier der Inbegriff alles Subjectiven; beides als Eins begriffen vermöge der sogenannten „intellcctuellcn Anschauung", welche Schilling als sein eigenthümliches Erkcnntnißprinzip schon in den „philosophischen Briefen überi^s. Dogmatismus und Kriticismus" proclamirt hatte, „ein geheimes wunderbares Ver mögen, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außcn- hcr Hinzukain, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwan- dclbarkeit daS Ewige anzuschaucn". Das alte Wort „Erkenne Dich selbst" bedeutet sonach für Schilling nicht mehr eine mühsam auf die eigenen Gcistcsvermögcn, vor Allem aus den Prozeß des Erkennend gerichtete Untersuchung im Sinne Kant's oder charaktervolle Verfestigung im Bewußt sein des sittlichen Werthes der Persönlichkeit im Sinne Fichte's; es bedeutet vielmehr ein schon halb mystisches, „intuitives" Sichvcrsenken in das große All, um in diesem Spiegel unsere eigenen Züge zuletzt wiedcrzuerkennm und Wesen wie Geschichte der menschlichen Intelligenz aus der Natur zu construiren. Die Natur als Geschichte des Geistes, das ist das Thema von Schelling's Jdentitütsphilosophie, und in diesem Sinne ist dieselbe in erster Linie Naturphilosophie, eine mit allen Mitteln der Phantasie und des Wissens ausgcmalte, von dichterischem Hauche nicht minder als von wissen schaftlichem Geist durchdrungene Darstellung der äußeren Natur als einer Illustration des Wesens der Intelligenz. Denn die Naturphilosophie, welche von der Erfahrung ausgehend durch eine endlose Reihe von Entwickelungen ihrem Ziele entgcgcnschrcitet, findet letzteres in der „vollkommenen Darstellung der Jntcllcctualwclt in den Gesetzen und Formen der erscheinenden Welt und hinwiederum vollkommenes Begreifen dieser Gesetze und Formen aus der Jntellectualwclt, also die Darstellung der Identität der Natur niit der Jntellectualwclt". Dieser „spcculativcn Physik" zufolge erscheint die todte Natur nur als „unreife Intelligenz", die Materie als „erloschener Geist". In aufstcigcnder Reihenfolge der Geschöpfe rcflectirt sich die Natur immer tiefer in sich selbst, bis sie im Menschen ihren eigensten Grund erreicht. Succcssion und Organisa tion bilden das Gchcimniß dieser Entwickelung, und die Intelligenz selbst ist nichts anderes als das endlose Streben, sich zu organisircn. Dieser leitende Gedanke einer „fortschreitenden Entwickelung des in der Natur gleichsam versteinerten Riesengcistcs" zum Bewußtsein, welches er im Menschen gewinnt, übte auf die Geister der Zeitge nossen und Nachkommen einen unbeschreiblichen Reiz aus und bildete recht eigentlich die Zugkraft der neuen Jdcntitätsphilosophic. Innerhalb derselben entspricht übrigens der spcculativen Physik auf Seitendes Geistes die „Transcendentalphilosophie" als „in wendig gewordene Naturphilosophie", worin dieselbe succcffivc Entwickelung am an- schaucndcn Subjcct vorgcnommcn wird, bis durch eine ähnliche Stufenfolge von An schauungen „das Ich sich zum Bewußtsein in der höchsten Potenz erhebt". Wie die Naturphilosophie zerfällt auch die Transcendentalphilosophie in drei Thcile, in die theoretische, in die praktische und in die Philosophie der Kunst. Denn Kunst ist die bewußte Nachbildung der bewußtlosen Naturidcalität, und Schönheit das Unendliche