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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 867 ein umfassendes Zeit- und Culturgemülde verbindet, führt uns hauptsächlich den Bildungsgang der Goethe'schen Jugendzeit vor die Seele; durch seine italienische Reise und durch verschiedene Abhandlungen und Notizen über Kunst und Künst ler, z. B. Biographie von Hackert, Winckelmann u. dergl., wird uns die wich tige Periode seines italienischen Aufenthalts näher gerückt; in der Campagne von 1792, die er als Begleiter seines Herzogs in der preußischen Armee mit- niachte, erfahren wir seine Schicksale beim Ansbruch der Revolution und be wundern seine Gabe der Auffassung des Einzelnen; in den zahlreichen Brief- sannnlungen von ihm und an ihn blicken wir in das Innerste seiner Seele, seine Sinnes- und Denkungsart, und die letzten Reden, Gedanken und Bemerkungen des Dichterhelden in Weimar sind uns von Eckermann, Niemer u. A. mitge- theilt worden. Das Schicksal des Weimarer Landes und seines Herzogs nach der Schlacht bei Jena ging Goethe sehr nahe. Man besitzt eine Aufzeichnung von Johannes Falk über den Scelenzustand des Dichters in diesen Tagen. Er billigte durchaus die Theilnahmc Karl August's an dem Kriege: „Ich sage Euch, der Herzog soll so handeln, wie er handelt, er muß so handeln! Ja, und mußte er darüber Land und Leute, Krone und Scepter verlieren, wie sein unglücklicher Vorfahr, so soll und darf er doch um keinen Preis von dieser edlen Sinnesart und von dem, was ihm Menschen- und Fürstcupflicht in solchen Fällen vor schreibt, abweichen. Und wenn cs auch dahin mit ihm käme, wohin es mit jenem Johann Friedrich einst gekommen ist, so soll uns auch das nicht irre machen, sondern mit einem Stecken in der Hand wollen lvir unfern Herrn, wie Lucas Kranach den seinigcn, ins Elend begleiten und treu an seiner Seite aus harren. Die Kinder und Frauen, wenn sie uns in den Dörfern begegnen, wer den weinend die Augen aufschlagcn und zu einander sprechen: Das ist der alte Goethe und der ehemalige Herzog von Weimar, den der französische Kaiser seines Thrones entsetzt hat, weil er seinen Freunden so treu im Unglück war." Später, als das Alter den Weimarer Sänger nachsichtiger und toleranter machte, fand er sich nicht blos mit den politischen Zuständen zurecht, sondern versöhnte sich auch mehr mit der neuen Kunstrichtung und stimmte in den Ton und Ge schmack der Zeit ein. In dem durch Vollendung der Form wie durch Plan- uud Regelmäßigkeit in Anlage und Ausführung ausgezeichneten Roman „die Wahlverwandtschaften" lieferte Goethe ein Meisterstück der neuen Novellenlitc- ratur und in der Reihe kleiner Erzählungen, die als „Wilhelm Meisters Wan derjahre" erschienen, huldigte er dem Märchengeschmack und dem Gefallen am Gcheimuißvollen und Mystischen. Die Wahlverwandtschaften nannte Goethe „die Grabcsurne herben Geschicks"; es sei kein Strich darin, den er nicht selbst erlebt, wenn auch keiner so, wie er ihn erlebte. Eine heiße Liebe zu der jungen Minna Herzlieb, die er im Hause des Buchhändlers Frvmmann in Jena kennen gelernt, war die Seelenstimmung, waren die tragischen Herzenserlebnisse, aus denen das Werk hervorgcgangen, der Kampf der Licbesleidenschaft und der 55*