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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 861 Jahr 1802 in Bettlertracht nach der Heimath zurück, ein Bild geistiger und körperlicher Zerrüttung. Er wurde nie wieder völlig geheilt, wenngleich neben Anfällen von Wuth und Tobsucht auch lichte Momente von längerer oder kürzerer Dauer eintraten, wäh rend deren er noch die Antigone und König Oedipus von Sophokles übersetzte. „Roch ein kurzes Aufflackern, ein Sichsammeln des irren Geistes, dann die Nacht, die vierzig jährige Nacht". Im Zustande völligen Wahnsinns, verlebte er noch eine lange Reihe von Jahren im Hause eines Tischlers in Tübingen, bis er in hohem Alter sein bewußt loses Dasein schloß (1843). Was Novalis einmal von dem in der Fülle der Begei sterung und Phantasie schaffenden thätigen poetischen Sinn aussprach, „daß er mehr Verwandtschaft mit dem Sinn für Weissagung, mit religiösem Sinn, mit dem Wahn sinn überhaupt" habe, das ist bei Hölderlin wörtlich eingetrcten. Seine „lyrischen Ge dichte", Hymnen, Oden, Elegien, die in der Folge von Schwab und Uhland gesam melt und herausgcgebcn wurden, geben durch die Tiefe und Fülle der Empfindungen, die Glut der Phantasie und die Innerlichkeit der Gefühle den Beweis, welch edle Anlage und schöpferische Dichtergabe durch Gcmüthskrankheit und Wahnsinn zerstört worden sind. Wenden wir uns von den Häuptern der Romantik zu deren übrigen Vcr- ZAis tretern, so finden wir im Allgemeinen, daß die romantische Poesie mehr em pfangend und nachbildend, als selbstthätig war und ihren Hauptwerth in die Vollendung von Form, Sprache und Versbau setzte. In der Lyrik herrscht ein düsterer, melancholischer Grundton, eine weiche, empfindsame Stimmung', ein ungestilltes Sehnen; so bei Tiedge, dessen elegisches Gedicht „Urania" von Gott und Unsterblichkeit singt, bei Baggesen, Matthisson, Chamisso; im Drama haben die schauerlichen, von religiöser Mystik und Schwärmerei durchdrungenen Dichtungen des überspannten, ziel- und regellos umhergetricbe- nen Zacharias Werner mehr Nachahmung gefunden, als die lebendigen Theater- stücke des talentvollen Heinr. von Kleist und die freilich oft trockenen und H^Kiast schwunglosen historischen Dramen der Brüder Heinrich und Matth. Collin, wie sehr auch Platen mit aristophanischem Witz die verschrobene Richtung jener „Schicksalstragödicn" bekämpfte. Mit besonderem Interesse pflegten die Roman tiker die Roman- und Novellenliteratur; aber gerade in dieser Gattung trat die überspannte und gespreizte, wenn auch theilwcise geniale und hochkünstlerische Richtung dieser Schule am schärfsten zu Tage. Arnim, Hoffmann und Bren tano liefern den Beweis, daß bedeutende poetische Begabung, welche der Zucht der Form und des Gedankens entbehrt, verhallt, ohne ein Echo in der Nation zu finden. Mehrere dieser Dichter, wie Chamisso, de la Motte Fouque, hatten in Verbindung mit Varnhagen, Hitzig u. A. zu Anfang des Jahrhunderts in Berlin den Nordsternbund gegründet, worin gemüthliche Geselligkeit, vaterlän disches Streben und künstlerische Hebung das gemeinsame Band bildeten. Bei dieser Richtung der Zeit, der die talentvollsten Schriftsteller und die Wortführer des Volks huldigten, vermochten die wenigen Stimmen, die einen freiem Ton anschlugen, nicht durchzudringcn. Was half es, daß der freiheitliebende, patrio tische Se um e, der rüstige Spaziergänger nach Syrakus, in seinen Gedichten, »durch die ein bitterer Gram seine Furchen zieht", die Gedanken und Empfiu-