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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 859 werden; dieses Ziel war jedoch seinem Ehrgeize nicht beschicken. Die Vorliebe sür „die Sprache und Weisheit der Inder" theilte auch der Bruder Friedrich Schlegel, der wäh rend seines Aufenthaltes in Wien den frühem Freisinn und die Leichtfertigkeit, die ihn zur Abfassung der „Lucindc" geführt, ablegte, in seiner geistreichen, aber ein seitigen „Geschichte der alten und neuen Literatur" und in den „Vorlesungen über Philosophie der Geschichte" als Eiferer für die römische Kirche und Hierarchie und als Vorfcchtcr aristokratischer Vorurthcile auftrat, als Mann des politischen Rückschritts landständische Verfassungen bekämpfte und den Quietismus und die thatlose Beschaulichkeit des Orients als höchste Tugend pries. „Im Orient", sagt er in seinem Gespräch über Poesie, „müssen wir das höchste Romantische suchen, d. h. das tiefste und innigste Leben der Phantasie, und wenn wir erst aus den Quellen schöpfen können, so wird unS vielleicht der Anschein von südlicher Gluth, der uns jetzt in der spanischen Poesie so anziehend ist, wieder nur abendländisch und sparsam erscheinen". Zn seinen „Vorlesungen über neuere Geschichte" stellt er das einträchtige Zusammen wirken von Papstthum und Kaiserthum als „das Ideal" dar, „welches dem europäi schen Staaten- und Völkcrsystcme zu Grunde liege"; daher weilte sein Blick mit Vor liebe aus dem Mittelalter, wo diese beiden Kräfte den Einhcitspunkt der Geschichte bildeten und das Ritterthum ein sittliches Band um alle Völker schlang, und darum war er der Lobrcdner Oesterreichs, daS die Verfassung des Mittelalters und den Begriff von einem Ganzen der gcsammten Christenheit stets aufrecht zu erhalten gesucht habe. Bestand das Hauptverdicnst der Schlegel in ihren wissenschaftlichen Leistungen, in ihrer geistreichen Kritik („Charakteristiken und Kritiken"; „Athenäum"), wodurch sie die verflachte Literatur mit „göttlicher Grobheit" bekämpften und der Poesie wieder ihren idealen Standpunkt anwiesen, sowie in ihrer vielseitigen Anregung, so bestehen die Ver dienste Ludwig Tieck's in seinen dichterischen Produkten und in seinen Bemühungen um das Theaterwcscn. Den größten Ruhm erlangte er durch die dramatische Bearbeitung alter Volkssagen und Märchen, sowohl in den gröhern Dramen Genoveva, der Apotheose des christlichen Wunderglaubens,KaiserOctavianus,der Verklärung des „alten roman tischen Landes", seines Heldenthums und seiner keuschen Frauen, seiner Minne und seiner Wunder, Fortunat, mit seinem Gcldseckcl und Wunschhütlcin zum Beweis, daß zeitlich Gut allein kein dauerndes Glück bringe; als in den Sammelwerken: Peter Leberecht's Volksmärchen und PHantasus. Seine Richtung zum Wunderbaren. Mysteriösen und Phantastischen machte diese Werke zur Lieblingslectürc gewisser vornehmen Kreise, die sich nunmehr eben so dem Religiösen und Mystischen, dem Wunder- und Aberglauben zu- wandtcn, wie früher dem Unglauben und der Freigeisterci. Diese Märchen- und Volks bücher des Mittelalters waren der eigentliche Boden für die romantische Poesie; hier lag die unbegrenzte Welt des Gcmüths und der Phantasie in „mondbeglänzter Zaubernacht, die den Sinn gefangen hält", offen da; hier erreichten die Romantiker am besten ihren Zweck, den Leser „in die Empfindung eines Träumenden hincinzuwiegen", in eine Welt zu versetzen, wo Morgen- und Abendland, alle Stände, Alter und Geschlechter bunt durcheinander wogen. Zm Märchen blühte den Romantikern die „blaue Blume", das Ziel der unendlichen Dichtersehnsucht. Ticck schwankte lange in seiner Richtung, ehe er den wahren Boden für seinen Geist fand. Seine ersten Romane, das orientalische Schaucrbild Abdallah und der Briefroman Will. Lovell, lassen keineswegs die spätern Ansichten deS Dichters errathen. William Lovell, nach einem französischen Roman des Rctif de la Bretonne, ist ein Nachtstück menschlicher Leidenschaftlichkeit, auf Rousseau'- schem Pessimismus ausgcbaut, das Ticck selbst als das „Mausoleum vieler gehegten und geliebten Leiden und Jrrthümer" bezeichnet, das Bild eines Haltungslosen Gefühls menschen, der in den Stürmen des Lebens untcrgeht. Der echt romantische Charakter