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856 B. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. scheu Sprachklang und musikalische Rhythmik den Hauptwerth setzte*), und daß durch die Vermischung verschiedenartiger Dichtungsformen und Metren, durch die Verzerrung der richtigen und unerläßlichen Kunstforderungen eine Nei gung zur Ueberkünstelung entstand, daß nicht nur der Inhalt gering angeschla gen wurde, sondern auch das dichterische Formgefühl Schaden nahm und der Sinn für einheitliche geschloffene Kunstform sich abstumpfte. Jede Poetik, jedes Dich tungsgesetz erschien dieser Schule als eine Abschwächung der poetischen Urkraft, des reichfließenden Borns echter Universalpoesie. In Tieck's Genoveva ist der Versuch durchgeführt, alle Formen der Poesie anzuwenden, Epos, Lyrik und Drama zu einer Art elementarer Urpoesie zu verschmelzen. Auch die hervor stechendsten Eigenthümlichkeiten der romantischen Schule, die Ironie und die katholisirendeTendenz, wurden von Tieck eingeführt und von den Nach züglern auf die Spitze getrieben. In der ironischen Laune, die im genialen Ueber- muth ihre eigenen Gestalten persiflirte und vernichtete, in dem Schweben des Künstlers über seinem! Stoffe, erblickten die Romantiker „die Offenbarung der Freiheit", den entsprechendsten Ausdruck des im Vollgefühle der Kraft und Selbstbestimmung sich frei bewegenden individuellen Geistes. „In der steten Unterbrechung der hingebenden Begeisterung durch übermüthige Selbstparodie sollte die Mahnung liegen, daß die vorgcführte Welt eine von der Wirklichkeit streng geschiedene sei, eine lediglich auf sich selbst gestellte, rein dichterische, nur durch die Phantasie geborene". Neben Tieck hat Th. Hoffmann diese selbstironi- sirende Laune des Schaffens, diesen excentrischen Subjektivismus, dieses Spielen mit dem Stoffe, am grellsten angewendet. Und wie durch diese Ironie und Selbstparodie, die sich über ihren eigenen Inhalt lustig macht und ihre eigene Illusion zerstört, die dichterischen und ästhetischen Kunstgesctze verwirrt wurden, so durch die Hinneigung zum Katholicismus, die allen Jüngern der neuen Kunst schule eigen war und nicht wenige ihrer Mitglieder in die Arme der römischen Kirche geführt hat, das religiöse Bewußtsein. Mag auch diese katholisirende Tendenz bei Tieck und A. W. Schlegel weniger aus dogmatischen Gründen ge flossen sein als aus einer „rein künstlerischen Vorliebe", aus einer Sehnsucht nach dem Wunderbau der mittelalterigen Kirche, so war doch der Zug zum Katholi cismus eine so hervorragende Eigenthümlichkcit, eine so ausgeprägte Physiogno mie der ganzen neuromantischen Schule, daß schon Novalis die Weisheit des Papstes pries, weil er den „frechen" Ausschreitungen des menschlichen Denkens und Wissens auf Kosten des heiligen Sinnes Schranken gesetzt, und in der Wie derherstellung der katholischen Universalkirche in ganz Europa den Rettungsanker Liebe denkt in süßen Tönen, Denn Gedanken stehn zu fern, Nur in Tönen mag sie gern Alles was sie will verschönen. Tieck, Phantasus.