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852 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. wahren, den Geschmack vor dem Versinken in das Gemeine zu retten, den poe tischen Reichthum zu mehren, durch Einführung neuer Stoffe und dichterischer Formen eine größere Theilnahme für das Ideale im Volke zu wecken: sie konn ten die überflutheude Strömung der Jünger und Nachahmer nicht eindämmen, die Uebertreibungen nicht zurückhalten, den Verirrungen in das Extreme, Krank hafte, Phantastische nicht wehren. Wenn die Schlegel, Tieck, Novalis die Ten denz verfolgten, Poesie und Leben in innigeren Bund zu setzen, die Wirklichkeit durch die Dichtkunst zu verklären, die Erzeugnisse des Geistes und der Phantasie aller Zeiten und Völker zu einem nationalen Gesammtschatz zu vereinigen, so wurde diese Tendenz bald in einseitige Bahnen gelenkt, wodurch im Gegensatz zu ihren Absichten eine völlige Entfremdung der romantischen Poesie von dem Wirklichen und Lebendigen herbeigeführt, die poetische Bildung zum Sondergut einer Klasse von Anhängern erhoben ward. „Ihr Zweck, das Reale zu ideali- siren", urtheilt Gervinus, „verflüchtigte sich in nichtige Luftgespinnste; man wollte der Zeit, deren prosaische Außenseite mit ihrem poetischen Aufschwung noch im Widerspruch war, die Muster einer andern Zeit Vorhalten, wo das Leben selbst einen poetischen Strich hatte; man führte die romantischen Dichtungen des Mittelalters und der Fremden ein, aber man vergaß, daß das, womit man neues Leben schaffen wollte, größtentheils für uns todt war. Da der Wider klang nicht laut genug werden wollte, so steifte man sich desto nachdrücklicher auf diese Gattung, und das Mittel ward geradezu zum Zweck". Weil nicht alle Blüthenträume reiften, griff das mißvergnügte Künstlergeschlecht in die leere Luft, indem es nach Phantomen jagte und diese mit eigensinnigem Trotz zu lebendiger Wesenheit verkörpern wollte. Die Schule verließ ihren ursprünglichen Ausgangspunkt, den ästhetischen Boden, und stürzte sich, eine dogmatisireude Wendung nehmend, in das Mittelalter und in den Gegensatz des Rationalis mus, der Aufklärung, des politischen und religiösen Fortschritts. Vernunft und Wissenschaft wurden mehr und mehr überwuchert von Phantasie und Mystik. Meinte doch schon Fr. Schlegel, die Verdrängung der denkenden Vernünftigkeit durch „die schöne Verwirrung der Phantasie" sei der Anfang aller Poesie. Die Aufklärung nannten sie Abklärung. Sie galt ihnen als „die Hefe, die nach ab geschäumter Poesie auf dem Boden des Lebens übrig bleibt". Vi-ls-itig- Indessen lagen die Hauptvcrdienste der Romantiker gerade in der frucht- bringenden Anregung zu vielseitigen wissenschaftlichen Forschungen, in der Er weckung des Interesses für die geistigen Güter und Schöpfungen, die wenig bekannt im Schooße der Völker ruhten, in der Wiederbelebung des historischen Sinnes, in der Hinweisung auf die vaterländischen Poesieschätze. Wir werden bald des Näheren erfahren, wie die Brüder Sch lege!, die, wenn auch nicht gerade Genialität oder fruchtbare Schöpfuugskraft, doch einen scharfsinnigen empfänglichen Geist, ein reiches Wissen, einen feinen ästhetischen Sinn und ein klares Urtheil besaßen, durch Uebersetzuugen und Abhandlungen, durch Kritiken