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II. Literatur u. Geistesleben im neunzehnten Jahrhundert. 849 wurden. Das hauptsächlichste Moment der Verwandtschaft liegt aber darin, daß Beide von der Kunst und den Künstlern einen ganz neuen, scheinbar höheren Begriff aufstellte», als bisher gegolten hatte. Die Kunst sollte Selbstzweck und die höchste Erscheinung des Lebens sein, und der Künstler sollte in heiliger Weihe mit dem Priester und Propheten wetteifern". Ebenso wenig vermochte sich Eng land den Einwirkungen deutscher Bildung zu entziehen, wie sehr auch die ortho doxen Wächter des anglikanischen Zion gegen die deutsche Freigeisterei und Denk gläubigkeit eiferten. Der begabteste der englischen Dichter, Lord Byron, vereinigte in sich den ungestümen Freiheitsdrang der Kraftgcnies, die philosophische Wegschung über kirchliche und confessionelle Beschränktheit unserer großen Dichter und das überreizte Gefühls- und Seelenleben, so wie die Sinnlichkeit unserer Romantiker. Aber indem er alle diese Eigenschaften zum Uebcrmaß steigerte, wurde er der Schöpfer jener, auch nach Deutschland verpflanzten, unglücklichen Poesie der „Zerrissenheit" und des „Weltschmerzes", zu der sich die vornehme Welt hinge- zogcn fühlte, weil sie darin die eigene Stimmung wiederfand. Auch nach Skan dinavien, Polen, Rußland und Ungarn bahnte sich die deutsche Literatur einen Weg. Der Rnsse Puschkin, dessen Roman in Versen Onegin mit Byron's Don Juan Aehnlichkeit hat, und der Pole Mickiewicz, de» der Aufstand seines Landes in die Verbannung trieb, schöpften aus der romantischen Dichtung den Natio nalsinn und die Vaterlandsliebe, die sie wie die italienischen Dichter zum Haß und Kampf gegen den Despotismus ansporntcn. Der große Völkcrkrieg gegen Napoleon, der, wie einst die Kreuzzüge, fast alle europäischen Staaten gegen den mächtigen Zwingherrn unter die Waffen führte, begünstigte und erleichterte den Austausch. Es entstand gleichsam eine Weltliteratur, in welcher nicht ein be stimmter Geschmack, wie einst der französische, Ton und Richtung angab und die Herrschaft führte, sondern worin Alles, was irgend eine Nation Großes und Schönes geschaffen, Geltung und Würdigung haben sollte. Der Mittelpunkt dieser neuen Weltliteratur war Deutschland: seine Lage, D>-deutsche seine Bildung, die Natur des Volks schien es zum Hüter und Lenker der gcisti-und' gen Bestrebungen bestimmt zu haben. Und wer wäre geeigneter gewesen, dem^""^' Vaterlande diesen Ehrenposten zu erwerben, als die Häupter der romantischen Dichtung mit ihren herrlichen Anlagen, mit ihrer anregenden Thätigkeit, mit ihrer Empfänglichkeit für die Schönheiten fremder Kunsterzeugnisse, mit ihrer Fülle von Kenntnissen, wären sie auf Goethe's und Schillcr's Wegen fortge schritten, statt nach neuen Bildungsformen, nach neuen Kunst- und Geschmacks- regelu zu streben, und hätten sie die zweifelhafte Ehre, für Schöpfer einer neuen Weltbildung zu gelten und deren Verbreitung mit propagandistischem Sekten eifer zu betreiben, nicht dem sichern Ruhm vorgezogen, als Wahrer und Förde rer der errungenen, auf Freiheit und Humanität gegründeten Cultur gepriesen zu werden! Wohl gingen auch die Häupter der romantischen Schule von dein Streben aus, die durch die beiden großen Dichter geschaffene künstlerische Jdca- Weber. Wellgeschichte. XIV. 54