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I. Reaktionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 815 gegen dos Julikönigthum verharrten, ohne jedoch einen merklichen Einfluß aus die öffentliche Meinung zu üben. Die andern Royalisten und Pairs fanden sich mit den vollendeten That- «-ms Ph>i,pp sachen zurecht und huldigten dem neuen Herrscher Louis Philipp, der, nachdem er im Sitzungssaale des Palais Bourbon die „Erklärung" der Kammer sammt^ der Beitrittsacte der Pairs „ohne Einschränkung und Vorbehalt" angenommen und beschworen hatte, als König der Franzosen den bereit stehenden Thron bestieg, in einer Ansprache die Hoffnung kundgebend, daß der europäische Friede keine Störung erleiden werde. So schloß die Julirevolution in würdigster Weise ab. Und wenn es sich blos um die Monarchen und Regierungen gehan delt hätte, so wäre der europäische Friede in der That durch den Wechsel der Dynastie nicht gestört worden. Die von Graf Mole mit diplomatischer Feinheit abgefaßten Schreiben, worin der neue König den auswärtigen Mächten seine Thronbesteigung anzeigte, fanden allenthalben eine gute Aufnahme. Von Eng land, wo vier Wochen früher der Whiggistisch gesinnte Wilhem IV. seinem Bruder Georg IV. auf dem Throne gefolgt war, ging die Antwort ein, daß, wenn das neue Königthum die bestehenden Verträge achten wolle, die Regierung von Großbritannien bereit sei, cs ohne weiteres anzucrkcnneu. Und Fürst Tallcy- rand, den Louis Philipp zu seinem Botschafter in London ernannte, verstand es, ein gutes Einvernehmen zu begründen und zu erhalten. Auch in Berlin und in Wien kam man zu dem Entschluß, „Frankreich sich selber zu überlassen, sich weder direkt noch indirekt in seine inneren Angelegenheiten zu mischen", voraus gesetzt, daß es sich jedes Eingriffes in die bestehenden Ordnungen des übrigen Europa enthalte. Metternich stellte jetzt der früheren Allianzpolitik ein neues Dogma der „Nichteinmischung" als Prinzip entgegen. Den Bonapartismus noch einmal ins Leben zurückzurufen durch Aufstellung eines neuen Prätendenten in der Person des Herzogs von Reichstadt als Napoleon II. schien ihm zu bedenk lich. Wie wenig auch der „Gefangene Europas" in Wien, der trotz seiner Jugend Meister in rückhaltcnder Vorsicht war, sich geneigt zeigte, als Waghals und Abenteurer nach Frankreich zu ziehen, sowohl der eigene Ehrgeiz des nicht unbegabten und hochgebildeten Prinzen, als die Stimme seiner Verwandten und der zahlreichen Anhänger seines Hauses konnten ihn doch zu einem Unter nehmen antrciben, welches das so sorgfältig gepflegte System der Legitimität und Stabilität von Grund aus erschütterl haben würde. So erfolgte denn in Wien die Anerkennung Louis Philipp's, wodurch allen Bonapartistischen Thronansprüchcn die Thüre verschlossen ward. — Weniger willfährig als Oesterreich zeigte sich Rußland. Kaiser Nikolaus betonte in seiner Unterredung mit dem französischen Legationssccretär Bourgoing, der in Abwesenheit Mortemart's die Botschnftcr- geschäfte besorgte, seine konservativen und legitimistischen Prinzipien und wollte Louis Philipp anfangs nur als Statthalter Heinrichs V. anerkennen; und wenn er auch mit der Zeit einer ruhigeren Betrachtung der realen Verhältnisse Raum