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I. N eactionäre Experimente u. revolutionäre Gcgenschläge. 795 Mangin, der so heltenhaft sich mit seinem Kopfe für die Ruhe verbürgt hatte, nicht zum Vorschein kam und in der Nacht nach Belgien entfloh. So wurde die Lage des Militärs immer bedenklicher, der Kampf immer schwieriger und ver wickelter, besonders in den engeren und bevölkerteren Stadttheilen, wo vicl- stöckige Häuser geschütztere Angriffspunkte über einander boten, Alles am Kampfe Theil nahm. Alles zur Waffe diente. Die Zahl der Insurgenten wuchs von Stunde zu Stunde; Alles was sich seit fünfzehn Jahren von Verstimmung, Haß, Leidenschaft gegen die Bourbonen in der Brust gesammelt hatte, durch die Presse und im mündlichen Verkehr stets aufs Nene angefacht worden war, ver einigte sich zu einem einzigen Gefühl des Widerstandes und der Kampfeslust. Den Zöglingen der polytechnischen Schule schloffen sich die Studenten des Rechts und der Heilkunde an; Napoleonische Offiziere und Soldaten wurden Anführer; Arbeiter, Jünglinge, Knaben drängten sich heran, auch einzelne Bürger traten in die Reihen der Streiter. Die Berichte von den Gefechten in den Straßen, auf den Barrikaden sind reich an Zügen von hoher Tapferkeit, von kühner Todesverachtung, an Sccnen trotziger Ueberhcbnng wie hochherziger Groß mut!) gegen den besiegten Feind. Der Name eines jungen Mannes, Arcole, der an der Spitze eines Volkshaufcns über die Kettenbrücke auf das rechte Seinc- ufcr Vordringen wollte und sein Wagstück mit dem Leben büßte, blieb in ehren dem Andenken. Die Brücke wo er fiel trug fortan seinen Namen. Erinnerte er doch zugleich an eine der glänzendsten Siegesthatcn aus Bonapnrte's italieni schem Feldzüge! Bei allen Kümpfen, Gefahren und Anstrengungen hatten in dessen die Volksstrciter den Vortheil, daß sie überall an bekannten Orten, überall von befreundeten Personen umgeben waren, überall Pflege, Herberge und Stär kung fanden. Ganz anders die Truppen. Abgesehen davon, daß viele Offi ziere gleich dem Marschall selbst 'zwischen militärischem Gehorsam und Vater landsliebe gcthciltcn Gewissens waren, daß der gemeine Soldat kaum wußte, wofür er kämpfte, waren die Leiden und Beschwerden in der Sommerhitze bei höchst mangelhafter Nahrung und Verpflegung in der leidenschaftlich erregten Stadt, wo aus allen Häusern Verwundung und Todesgefahr drohte, fast unerträglich. Aber auch die Truppen bewährten heroischen Muth gepaart mit Humanität und Schonung. „Die Zucht, die feste Treue, der kaltblütige Muth, die Standhaf tigkeit, die Menschlichkeit, in der die Garden und die Schweizer die Plagen dieses Tages aushiclten, waren der höchsten Ehre werth. Unaufhörlich gereizt,' ließen sie sich an keiner Stelle zu zügelloser Vergeltung dahinreißen". Die Geschichte hat wohl schwerlich bei irgend einer Schlacht oder kriegerischen Action so viele einzelne Züge von Kampflust, von freiwilliger Aufopferung und Hingebung, von Ausdauer und Entsagung in den Reihen der Streiter auf beiden Seiten zu verzeichnen wie in der großen Pariser Juliwoche. Nach zehnstündigen Kämpfen vor und in dem Stadthause blieben die Insurgenten schließlich im Besitze des Gebäudes, das in der Geschichte Frankreichs zu allen Zeiten eine so wichtige