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I. Reactionärc Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 781 Begründer einer strengeren Moralphilosophie gegenüber den Sensualisten des achtzehnten Jahrhunderts, insbesondere Condillac (XIH, 139), hochgefeiert als politischer Charakter aus einer großen Vergangenheit, da er neben Bailly im Pariser Gemeinderath thätig war und sich doch von allen anarchistischen Aus schreitungen fern gehalten, ein begabter Redner voll Uebcrzcngungstreue, Klarheit und logischer Konsequenz, ein unparteiischer, gerechter Benrtheiler der öffentlichen Dinge, ein strenger Hausherr von patriarchalischer Sitte und Einfachheit, war Royer-Collard um diese Zeit der echte Träger des constitutionellen Prinzips, das geehrte Haupt der gemäßigten Fortschritts- und Verfassungspartei, dem neuerungssüchtigen jüngeren Geschlechts der radikalen Opposition wie der hier archisch-absolutistischen Reaction gleichmäßig widerstehend. Seinen! ernsten, red lichen Streben zollte man allgemein Gerechtigkeit, ob ihm gleich sowohl in der Politik als in der Wissenschaft der Tiefblick und das Schöpferische des Genies abging, das er sich selbst mit einem stark ausgeprägten Eigengefühl bisweilen zu- erkcnnen mochte, und obgleich den leichteren vorwärts strebenden Kindern des Tages das meisternde Führcramt des morosen Hauptes der Doktrinäre manch mal lästig ward. Wie sehr indessen Ministerium und Kammermehrheit beflissen waren, ein konstitutionelles Staatslebcn auf Basis der Verfassung zu begründen und durch- » zuführen; bei Hofe hatte man weder Vertrauen zu der gemäßigt liberalen Politik, noch Wohlgefallen an ihr, und auch in den Reihen des demokratischen Fort schritts trat mit der Zeit eine schärfere Opposition zu Tage. Man spürte bereits das Wehen entgegengesetzter Luftströmungen, die um die Herrschaft von Prinzi pien einen Entscheidungskampf einzugehen Verlangen trugen. Das Beispiel Englands, wo die Tories unter der Führung Wellingtons ans Ruder kamen, wirkte auf die Tuilerien zurück. Schon sah man „die Vögel der unheilvollen Vorbedeutung", die Polignac und Genossen, um den Thron flattern, bereit einem absolutistischen Staatsstreich ihre Hülfe zu bieten. König Karl X. war der Typus der emigrirten Aristokratie, von der man sagen Kan x. und konnte, daß sie nichts gelernt und nichts vergessen habe. Von Borurtheilen beherrscht, P°Anac. mit geringen Geistesgaben ausgerüstet und in unbegrenztem Hcrrscherhochmuth sich be wegend, war er unfähig die veränderte Zeit zu begreifen und in ihre Jdeenkreisc cinzu- treten. Für die politischen Probleme der Gegenwart wie für die verwickelten Fragen der inneren Verwaltung fehlten dem Fürsten, dessen Zeit nur zwischen Jagd und Messe, » zwischen Reiten und Kartenspiel getheilt war, Berständniß und Auffassungsgabe. Voll tiefen Grolls gegen die Männer der Revolution, fühlte er sich nur wohl in einer Um gebung, die ihm unbedingt huldigte, die seine Gefühle und Ansichten theilte, die ihm keinen Einwurf noch Widerspruch entgegensetzte. Das neue Staats- und Verfassungs leben und Alles was man die Errungenschaften der Revolution nannte, war ihm in der Seele verhaßt; er hatte die Annahme der Charte durch seinen Bruder einen über eilten Schritt genannt, und als er es bei der Krönung über sich gewann, dieselbe zu beschwüren, geschah cs mit dem Hintergedanken, durch sophistische Deutungen sich der lästigen Beschränkung seiner Hcrrschermacht zu entziehen. Auch die Verfassung Eng-