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I. Reactionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 769 doch nur die unwissende und abergläubische Landbevölkerung von den klerikalen Schlingen umstricken. Die von der „katholischen Gesellschaft" verbreiteten »6an- 1ÜHU68 ä 1'u8UA6 (Iss militairss«, die eine weltverachtende, asketische, gleisne rische Gesinnung bei den Soldaten erwecken sollten, vermochten weder die alten Kriegsgesänge noch die Lieder Beranger's zu verdrängen. Und in welchem Con- traste standen die Prozessionen, die Aufzüge der Brüderschaften, die Pilgerfahr ten und Litaneien, welche die Congregation mit so eifriger Geflissenheit veran staltete, zu dem Geiste der Zeit, der in der gleichzeitigen Literatur und in der freisinnigen Tagespresse wehte! Die Pariser Journalisten erwarteten vergebens jeden Morgen die Nachricht A^Snuung von einem Ministerwechsel zu vernehmen; Villele stand unter dem neuen Regi- mente fester als unter dem bisherigen. Karl X. fand das wunderbare Gefüge, in das der Minister die ganze Staatsmaschine gebracht, die Concordanz aller öffentlichen Organe, sowohl der ausübenden als der gesetzgebenden und richter lichen Gewalt, die Belebung und Begünstigung der hierarchisch-feudalen Ele mente so sehr nach seinem Sinne, daß er sich wohl hütete, das fein gegliederte Räderwerk durch Eingriffe in seinen Gang und seine harmonische Ordnung zu stören. Auch die politische Lage des Auslandes war dem Ministerium Villele günstig. Unter Ludwig XVIII. war der Einfluß des Kaisers Alexander und seines Gesandten Pozzo di Borgo in Paris fortwährend überwiegend; in Peters burg war aber Villele nie eine begünstigte Persönlichkeit, man bewies ihm bei verschiedenen Gelegenheiten Mißtrauen und Zurücksetzung. Seit dem spanischen Feldzug trat eine Schwenkung ein: der französische Hof emancipirte sich; er fing an Politik auf eigene Hand zu treiben, die mehr mit den Metternich'schen Anschauungen in Einklang stand. Seit der Erhebung Griechenlands gingen die beiden Ostmächte verschiedene Wege. Metternich hatte erkannt, daß Alexander die Heilige Allianz in einem andern Sinne verstehe als er selbst; daß, während die Politik der österreichischen Hofburg auf unbedingte Unterdrückung aller revolu tionären und demokratischen Regungen hinausging, der Zar bei jeder Bewegung das russische Interesse in Ueberlegung nahm und danach seine Handlungsweise bestimmte. Der kluge Diplomat an der Donau sah sich daher nach einem andern Bundesgenossen um, der mehr mit ihm in Ucbercinstimmung stehe, und warf seinen Blick auf das neue Regiment in Frankreich. Er reiste selbst nach Paris, um mit eigenen Augen die Lage und Stimmung kennen zu lernen, und Wj-hr wurde dort mit der größten Auszeichnung behandelt. Die verwandten Seelen der beiden Staatsmänner erkannte» sich rasch: Die feste Zuversicht Villele's, der unumwunden erklärte, daß er sicher des Vertrauens des Königs und der Partei „die völlige Restauration zu bewirken hoffe, indem er nach und nach alle revolu tionären und konstitutionellen Einrichtungen zerstöre", imponirte dem Staats kanzler; er war entzückt über die Energie des französischen Staatsmannes. Seitdem lockerte sich das Band zwischen Frankreich und Rußland, während der Weber, Weltgeschichte. XIV.