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I. Reaktionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 729 geschwächt werde. Die Reformpartei, unterstützt durch die radikale Presse ini Dienste eines Hunt, Cobbett und anderer Volksredner, drang immer energischer auf eine Umgestaltung der parlamentarischen Verfassung und Wahlordnung nach den Bedürfnissen der Gegenwart und schärfte immer mehr die agitatorische Be wegung, die denn auch nach einigen Jahren zu den Reformen führte, die wir an einem andern Orte kennen lernen werden. Den ersten nachhaltigen Stoß em pfing das Toryrcgimcnt, als Lord Castlereagh, seit 1821 Marquis von Lon- donderry, der langjährige Genosse Georg's und der Hauptträgcr der treulosen volksfeindlichen Politik, sich selbst den Tod gab, indem er in einem Anfall von^.Aug.iW. Irrsinn, herbeigeführt durch nervöse Überspannung, Argwohn und Schwer- muth, sich die Schlagader am Halse mit einem Federmesser durchschnitt. Dieser Ansgang des berühmten Staatsmannes in einem Augenblick, da sein Herr und Gebieter bei seinem ersten Besuch in Edinburg von den Schotten mit über schwenglichen Huldigungen empfangen ward, erschütterte den König, auf dem so manche Jugendsünde lastete, im höchsten Grade und machte ihn menschenscheu und mißtrauisch, bewirkte aber auch, daß er sich weniger feindselig abschloß gegen die großen Zeitfragen und die freiheitlichen, Humanitären Ideen, die sich im Auslande wie i» England selbst immer kräftiger hervorwagtcn. Das erste Anzeichen dieses Einlenkens war die Ernennung Canning's zu Castlcreagh's Nachfolger. Die Abstellung des Sclavenhandels, der barbarischen Strafgesetze, der bürgerlichen Rcchtsungleichheiten der dissentirenden Confessionen wurde nun mehr die Losung aller Liberalen; unter den höheren Grundsätzen brach allmäh lich die Scheidewand der Parteien zusammen, welche die bisherigen Staatslenker in zwei Heerlager geschieden und in Bann gehalten hatten. Während der König die letzten Jahre seines Lebens von Gicht geplagt Mimst» in düsterer Zurückgezogenheit zu Windsor verbrachte, umgeben von Lady Co- nynghaiu und einem kleinen vertrauten Freundeskreis, fand der große Staats- ^ ^ mann Canning, welcher während seines langen öffentlichen Wirkens von den Grundsätzen der gemäßigten Tories ans Pitt's Schule mehr und mehr zu den weiteren und freieren Anschauungen der Whigs übergegangen war, der mit einem rastlosen Ehrgeize hohe geistige Bildung, glänzende Beredsamkeit und Begeisterung für edle und würdige Zwecke verband, in der politischen Weltlage Gelegenheit, dem englischen Jnselreich wieder den früheren Vorrang und Einfluß auf de» Gang der auswärtigen Dinge zu verschaffen und zugleich im Innern die Hindernisse wegznräumen, welche einer zeitgemäßen Reform des parlamenta rischen Staatsbaues im Wege standen. Wenn er im stolzen Nationalgefühl sich im Parlamente dahin aussprach: „er wolle andere Völker nicht hindern, ihre Fackel an der englischen.Freiheit anzuzünden", so war er doch wieder ein zu standhafter Anhänger conservativer und monarchischer Ordnungen, als daß er jemals radikalen Umsturzpläncn hätte Vorschub leisten wollen. Nach seiner Auffassung war es Englands Aufgabe, „einen Mittelgrund einzunehmen, um