Volltext Seite (XML)
I. Reactionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 621 vor den Muratisten, durch Entlassung vieler Offiziere verstimmt und in Unzu friedenheit gesetzt. Die Folge war, daß das Bandenwesen in erschreckender Weise zunahm, daß Räuber in Rotten geschaart und von verwegenen Häuptlingen geführt Leben und Sicherheit gefährdeten, dem Gesetz und der Obrigkeit Trotz boten und zu einer anarchischen Macht heranwuchsen, mit der die Regierung bald unterhandelte und Verträge schloß, bald durch Ausbieten von Militär blutige Kämpfe führte. Im Jahre 1818 wurde Annichiarico, ein furchtbares Banditenhaupt mit hundert seiner Gefährten erschossen. Aber weder die Hin richtungen, noch die Auspflanzung der Köpfe der zahllosen Enthaupteten an den öffentlichen Orten und Straßen vermochten das Uebel auszurotten. Auch der uns bekannte Geheimbund der Carbo nari, der nach der Besei-D^e tigung der Fremdherrschaft wieder mehr den Ideen der Aufklärung und Freiheit seine Thätigkeit widmete, trug wesentlich zur Schwächung der Regierung und pa-m. zur Zersetzung und Zerbröckelung des öffentlichen Wesens bei. Bald in Feind schaft, bald im Einverständnis; mit den Räuberfactionen, suchten die Carbonari, die in allen Provinzen und Städten Zweigvereine oder Sekten (Venditen) hatten, unter dem Mittelstände und bei der Armee konstitutionelle, freisinnige Ansichten zu wecken und zu nähren. Weder der monarchische Gegenbund der „Calde- rari" (Keßler), womit der Fürst Canosa, einst eines der schrecklichsten Werk zeuge der royalistischen Reactionstyrannei, nach Colletta's Versicherung ein Trun kenbold, Ehebrecher und Scheinheiliger, als Polizeiminister die „Köhler" zu unter- Me. drücken gedachte, noch die militärischen Gcwaltmaßregeln des in neapolitanische Dienste getretenen englischen Generals Church waren im Stande, dem agitatori schen und factiosen Treiben nachdrücklich zu steuern, der Regierung Kraft und Autorität zu verleihen. In ihren guten Zeiten verbanden die Carbonari mit ihren vaterländischen und freiheitlichen Tendenzen auch die Förderung der Civilisation, der Sittlichkeit und eines ehrbaren Lebenswandels unter den mitt leren Klassen. In der Mehrung ihrer Anhänger bei der Miliz konnte General Wilhelm Pepe, ein Enthusiast, der während einer abenteuerlichen Lebens bahn unter den mcmnichfoltigsten Schicksalen, Verfolgungen und Verschwörungs versuchen allmählich vom feurigen Republikaner zum gemäßigten Monarchisten und Liberalen sich entwickelt hatte, das sicherste Mittel zu einer Regeneration des gemeinen Wesens, zur Abwerfung des unwürdigen Absolutismus und zur Aufrichtung einer konstitutionellen Staatsordnung erblicken. Und wie er, so dachten noch andere Patrioten, ein Carrascosa, Colletta, Florestan Pepe, Wilhelms älterer besonnenerer Bruder u. a. die aus den Stürmen der Vergangenheit ihres schönen und doch so unglückliche» Vaterlandes den Sinn für Ehre und Bildung, für bürgerliche Freiheit, Nationalität und Volkswohlfahrt in die Gegenwart gerettet hatten. Wie sollte nicht unter solchen Verhältnissen die Militärreuolution in Spanien ähnliche Bewegungen in der apenninischen Halbinsel, vor Allem in dem durch so viele Fäden der Verwandtschaft, der Tra-