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I. Reaktionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 589 Bis Ende Juni dauerten die Verhandlungen über das „Gesetz der Doppel- stimmen", wobei das Haus oft der Schauplatz heftiger persönlicher Angriffe und »umg."" Schmähungen war, die bis zum Zweikampf führten, in der Hauptstadt und in den Provinzen die Partciwuth zu Straßcnkämpfcn, Ueberfällcn ja zum Mord sich steigerte. Bei Louvel's Hinrichtung kam es aufs Reue zu blutigen Auftritten. r. Ju,„ i8M Die gleichzeitigen Vorgänge in Spanien, die wir bald kennen lernen werden, trugen nicht wenig zu der Erregung der Gemüther unter den Parteien bei. In der Armee zeigte sich ein Geist der Unruhe, der durch Bonapartische Halbsold offiziere genährt ward. Die „Conspiration vom 19. August", an deren Spitze ein Hauptmann Nantil stand und die sich über drei Legionen verzweigte, hatte gerichtliche Untersuchungen durch das Oberhaus und mehrere Bestrafungen zur Folge. Aber die Hoffnung der Königlichen, die Häupter der Liberalen in der Kammer, einen Lafayette, Manuel, d'Argenson, Dupont u. a. in die Ver schwörung verflochten zu sehen, wurde getäuscht. Die Geburt des uachgebornen Sohnes des ermordeten Berry, der den Namen „Herzog von Bordeaux" erhielt, s-ptbr. erzeugte ähnliche Nachreden wie einst die Geburt des Prinzen Jacob Stuart in England (XII, 539). In den Kreisen der Bourbonisten dagegen erblickte man in dem „Kind Europas" eine Bürgschaft für die Ruhe und Erhaltung der legi timen Throne, gegen welche gerade damals in Spanien und Italien so heftige Schläge geführt wurden. Die Geburt des „Wunderkindes" wurde für einen unmittelbaren Akt der Vorsehung zu Gunsten der herrschenden Dynastie erklärt. Zuversichtlich verkündete man: „nun endlich trete der Erzengel den Drachen unter die Füße". Das neue Wahlgesetz verbunden mit dem rückläufigen Geist der Zeit machte sich bald bemerkbar. In der Kammer wurden die Reihen der Rechten durch den Eintritt zahlreicher Ultraroyalisten, unter ihnen mehrere Häupter der glühenden Kammer vott 1815 verstärkt, das Ministerium Richelieu nahm unter Vermit telung von Chateaubriand zwei entschiedene Parteimäniier, Villele und Cor- biere, in seinen Schooß auf. In den Tuilerien gewann die Vicomtesse du Cayla, durch Familientraditionen dem Artois-Conde'schcn Hofe innig ergeben, hohen Einfluß. Die Erregung der Gemüther und die wachsende Partciwuth spiegelte sich in den Kammern ab. Bei dem schwankenden und bestimmbaren Charakter Richelicu's, der durch Mäßigung und Laviren das Staatsschiff durch die stürmenden Wogen zu führen bemüht war, wuchs der Trotz und die Anma ßung der Ultras zu solcher Höhe, daß das Abgeordnetenhaus von Neuem der Schauplatz tumultuarischer Auftritte ward, daß die gesetzgeberischen Arbeiten fortwährend gestört und unterbrochen wurden durch leidenschaftliche Ausfälle, durch Drohungen und Insulte. Bei solcher Lage und Stimmung war ein Regierungssystem, das weder im Ministerium noch in den Kammern eine klare und feste Stellung zu erringen vermochte, das in seiner eigenen Mitte an Un einigkeit litt, bei den Volksvertreter» sich auf keine Partei ausschließlich stützen