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I. Reactionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 585 angenehme Persönlichkeit, den Vorsitz und die auswärtigen Angelegenheiten über nahm, Decazes aber als Minister des Innern den größten Einfluß hatte, die Seele und das eigentliche Haupt der Regierung ward. Richelieu schied aus seinem hohen Ainte mit dem Rufe eines hochsinnigen, ehrenwerthen Mannes A Dm», von aufrichtigem Vaterlandsgefühl, frei von Eigennutz und Selbstsucht. Ver änderungen im Staatsrath und in den Bcamtencollegien sowie die mehreren Ver bannten und Ausgewiesenen ertheilte Erlaubniß zur Rückkehr waren Anzeichen, daß das neue Ministerium entschlossen sei, sich mehr auf die Liberalen und Con- stitntiouellen des Abgeordnetenhauses zu stützen als auf die Pairs, wo die Kö niglichgesinnten die Majorität bildeten, wenn gleich sich auch hier eine gemäßigte Gruppe, nach ihrem Führer „Cardinalisten" genannt, von der Partei der Ueber- eifrigen trennte. Nun trat ein politisches System ins Leben, das zu der Richtung von 1815 Da» Minis,.-, das Gegenstück bildete. Als in der oberen Kammer der Antrag auf eine Reform des Wahlgesetzes und auf eine Veränderung der Budgetaufstelluug angenommen mus^ufd-r ward, bewog Decazes den König, daß er fünfundsechzig neue Pairs ernannte, die fast sämmtlich dem Kaiserreiche gedient hatten, darunter Notabilitätcn wie Lebru», Champagny, Lcfebvre, Davoust, Jourdan, Moncey, Suchet u. A. m., und brachte bei den Abgeordneten drei Gcsetzesvorlagcn ein, wodurch die Presse erleichtert und freier gestellt, statt der Ceusur eine Caution eingeführt ward und Preßprozesse vor den Schwurgerichten verhandelt werden sollten. Wie sehr AD!-»,, immer die Royalisten, voran der Pavillon Marsan, „das nach Paris verpflanzte Coblenz", gegen den neuen Jacobinismus im Regimente sich ereiferten, der König und die Minister hielten das freisinnige System aufrecht. Die Spannung zwi schen Ludwig und Artois steigerte sich zu völliger Entzweiung. Die Camarilla des Pavillon Marsan bildete fortan eine geheime Regierung hinter und neben dem Thron. In den Kreisen der Liberalen wurde damals viel von den Vor gängen Englands in den letzten Regierungsjahrcn Karl's II. geredet und ge schrieben: die Gleichartigkeit oder Aehnlichkeit der Verhältnisse lag auf der Hand. Wie dort wurde auch hier eine Aendcrung der Erbfolge in Ucbcrlegung gezogen. Lafayette und seine Gesinnungsgenossen dachten an den Herzog von Orleans; in den Niederlanden bildet« sich unter den französischen Flüchtlingen und Ver bannten ein Complot, um auch in Frankreich einen Oranier dem Thronerben Artois entgegenzustellen, dem Prinzen von Orauien, der in die Pläne eingeweiht war, eine ähnliche Mission anzuvertrauen, wie einst die englischen Ausgewan derten und Whigs seinem Vorfahren Wilhelm III. Man zählte dabei auf die Unterstützung des Zaren, der mit dem niederländischen Thronfolger verschwägert war. In Frankreich selbst bestanden politische Vereine, welche die Verbreitung freisinniger Ideen und die Fortbildung des constitutionellen Staatslebens in der liberalen Richtung zum Zweck hatten. Aus ihrer Mitte gingen die agitatorischen Bewegungen für Erhaltung des Wahlgesetzes und für ausgedehntere Amnestie