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584 L. Vom Wiener Congreß bis zur Julirevolution. Phantasie bestimmt werden! Je mehr das Kaiserreich in die Ferne rückte, desto höher stieg die Bewunderung für den glanzvollen Herrscherbau und die hohen Gestalten, die ihn gegründet. Das imperatorische Frankreich hatte einst der Welt Gesetze gegeben und jetzt führte das Ausland selbst in den Tuilerien das entschei dende Wort. An die Stelle eines Heroengeschlcchts, wie den Nachgebornen die kaiserliche Herrlichkeit vorschwebte, war eine Generation von schwächlichen Epi- gonen getreten, die mit kleinlichem Geiste die große Vergangenheit herabzuwür- digen und auszulöscheu bestrebt war. Wir werden später die Wandlungen kennen lernen, welche sich im Geistesleben und in der Literatur vollzogen. Die Vergan genheit und die Gegenwart lagen wie zwei durch eine weite Kluft getrennte Welten einander gegenüber. Die Phantasie des Volkes weilte bei den großen Todten und Verbannten. In jeder Bauernhütte prangte das Bildniß des Impe rators ; in elegischen Liedern feierte man sein Andenken und sein tragisches Ge- v schick. Gegenüber solchen instinktiven Impulsen vermochten die Bourbonen nie populär und national zu werden. ^Stritt Aachen erfuhr Richelieu, daß die Deputirtenwahlen bei der Erneuerung des Fünftels für die Kammer dank der Thätigkeit der liberalen Presse, insbeson dere der Minerva, der Mehrheit nach auf die Männer des Fortschritts gefallen. Die Namen Lafayette, Manuel, Bondy, Grenier, Benjamin Constant, erin nerten an die Herrschaft der hundert Tage. Gerade damals schwirrten allerlei Gerüchte von demagogischen Umtrieben durch die Luft, die ihres Eindrucks auf das erregbare Gemüth Alcxander's nicht ermangelten. Die geheime Denkschrift der Ultras gewann jetzt in seinen Augen mehr Gewicht; er empfahl seinem Schützling Richelieu einen Wechsel des Systeins, eine Abänderung des Wahl gesetzes, eine Annäherung an die Royalisten. Metternich und selbst Wellington traten dieser Ansicht bei und König Ludwig schien nicht abgeneigt dem Auslande, das ihm gerade jetzt ein so offenkundiges Zeugniß des Vertrauens gegeben, auch seinerseits Beweise von Erkenntlichkeit zu geben. Voll Beklemmung kehrte Riche lieu aus der angsterfüllten Luft von Aachen nach Paris zurück. Die Adresse auf die Thronrede betonte die Anhänglichkeit der Kammer an die Charte in allen ihren Bestimmungen. Daraus konnte Richelieu schließen, daß er eine Aenderung des Wahlgesetzes nach dem Sinne der Mächte nicht durchführe» könne, zumal da das Ministerium gespalten war. Er selbst und Lains wollten sich dem Druck von Außen beugen, Decazes dagegen und mit ihm St. Cyr, waren der Ansicht, „es sei besser mit einemmale zu bekennen, daß Frankreich keine russische Provinz sei, als unter dem bloßen Schein der Freiheit Rußlands Ketten zu tragen". Es folgte eine Ministerkrisis. Der König, der sich ebenso ungern von Richelieu trennte als er den ihm so lieb gewordenen Umgang mit Decazes missen wollte, suchte zu vermitteln; aber die Ansichten und Absichten gingen zu weit ausein ander. So erhielten denn Richelieu und Laine ihren Abschied. Ein neues Ca binet trat ins Leben, in welchem General Dessolles, eine dem russischen Kaiser