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I- Reaktionäre Experimente u. revolutionäre Gegenschläge. 583 drupelvertrags vom Jahr 1815 in geheimen Conferenzen der vier Mächte deutete doch noch immer ans ein tiefes Mißtrauen, das Vorsicht zu gebieten schien. Diese Versöhnung mit dem Auslande schien auch im Innern zu einer Be- AAAU ruhigung der Geister, zu einer Ausgleichung der Gegensätze, zu einer Verstündi- ^s'bum un» gung der Parteien und zu einem nationalen Zusammenwirken aller Staatsglieder für die Wohlfahrt des Ganzen führen zu müssen. Und in der That wies die letzte Periode des Ministeriums Richelieu ein Staatswesen in Frankreich auf, das einen ruhigen Entwickelungsgang der öffentlichen Dinge erwarten ließ. Man konnte glauben, daß die Betrachtungen über die französische Revolution, welche Frau von Stael bei ihrem Tode der Nation als Vermächtniß hinterlassen, ein Buch, „das aus den unfruchtbaren und gewaltsamen Kämpfen der politischen Factionen zu dem gesetzlichen Wetteifer grundsätzlicher Parteien zurückrief", in den Gemüthern aller Patrioten eine wohlthätige Wirkung erzeugen, sie zu einer fruchtbaren Thätigkeit für das allgemeine Wohl mit gegenseitiger Anerkennung und Würdigung der Ziele und Bestrebungen anfeuern würden. Die politischen Parteien hatten sich allmählich zu festen Prinzipien geeinigt, die, wen» auch verschiedenartig, ja nach entgegengesetzten Richtungen auseinandcrgchend, doch nicht mehr den leidenschaftlichen stürmischen Charakter von ehedem zeigten. Sowohl die „Unabhängigen" aus den Kreisen Lafayette's, die jetzt allgemein mit dem aus Spanien herübergckommenen Namen „Liberale" bezeichnet wurden, und deren Repräsentanten in der Kammer die Linke bildeten, als die Fraktionen des Centrums, die bei der Abstimmung den Ausschlag gaben und sich den von den Gegnern ihnen beigelegten Namen „Doctrinäre" gefallen lassen mußten, waren darin einig, daß man das konstitutionelle Staatslebcn auf Grund der Verfassuugsurkunde ausbauen müsse. In diesem Sinne wirkte die einflußreichste Zeitung „Minerva". Aber man hatte kein rechtes Vertrauen, daß die Negierung der Charte aufrichtig zugethan sei. Es wurde schon erwähnt, daß weder der König noch die Räthe der Krone geneigt waren, das persönliche Regiment unter die zwingende Gewalt eines allmächtigen Staatsgrundgesetzes mit parlamentari scher Zugabe zu beugen, daß sie die Charte nur als eine von der öffentlichen Meinung gegen ihre Ueberzeugung auferlegte nothweudige Last ansahen. Die Presse wurde scharf überwacht, die Censur häufig mit Parteilichkeit gehandhabt, einzelne Bestimnnmgeu der Verfassungsurkunde willkürlich gedeutet oder um gangen. Man fand daß die Charte keine Wahrheit sei. So gewann denn die Opposition immer mehr Boden. Man fing in den Kreisen der Liberalen an, in dem Bourbon'schcn Hause „einen aller gesetzlichen Freiheit widerstrebenden Feind" zu erblicken. Wenn aber das herrschende Königshaus schon in den oberen Schichten, welche den realen Verhältnissen mehr Rechnung zu tragen geneigt sind, wenig Sympathien hatte, wie mußte erst die Unpopularität in der Masse des Volkes sich steigern, deren politische Ansichten hauptsächlich durch Gefühl und